Mit den brasilianischen Farben gegen die Korruption im Land

von Peter Steiniger

Drei Wochen lang bebte das Land. Auf dem Höhepunkt der Proteste am 20. Juni gingen in Brasilien mehr als eine Million Menschen auf die Straßen, es waren die größten politischen Manifestationen seit 20 Jahren. In 400 Städten wurden ein besserer öffentlicher Dienst gefordert und das Versagen der Politik und die Korruption angeprangert.

"Der Gigant ist erwacht", unter Schlagzeilen wie dieser wurde der Protest zum nationalen Ereignis. Die Protestierenden waren zum großen Teil junge Angehörige der rapide angewachsenen städtischen Mittelschichten. Immer weiter fächerte sich der Katalog ihrer Forderungen auf. Die "Generation Coca Cola" habe Facebook verlassen, sagten viele, und artikuliere sich nun in der Realität. Doch auch die großen Medien der rechtslastigen Gruppe Rede Globo wechselten auf die Seite des Protests. Ihr Ziel war es, nationalistische Parolen hineinzubringen und ihn gegen die linken Parteien und Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores - PT) zu lenken, vor allem, weil im kommenden Jahr in Brasilien Präsidentschaftswahlen anstehen.

Auslöser Fahrpreiserhöhungen

Vorspiel der Unruhen waren Aktionen der linken, basisdemokratischen "Bewegung für den Nulltarif" (Movimento Passe Livre - MPL) gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr von São Paulo, Porto Alegre und weiteren Städten. Als Einheiten der Polícia Militar, militärisch organisierter Polizeikräfte, in São Paulo brutal gegen Demonstrant/innen vorgingen und dabei etliche Menschen verletzten, drang das mit schockierenden Bildern über Medien und soziale Netzwerke ins öffentliche Bewusstsein und löste die Massenproteste aus. Eine politische Zäsur nach der Periode des wirtschaftlichen und sozialen Aufschwungs in Brasilien.

Unter der Ägide der PT wurde im vergangenen Jahrzehnt der Boom der sechstgrößten Volkswirtschaft genutzt, um Beschäftigung zu schaffen und Millionen Menschen aus der Armut zu holen. Die Krise an den Finanzmärkten konnte dem Land angesichts voller Staatskassen zunächst wenig anhaben. Große Infrastrukturprojekte, gewaltige Ölfunde, die Exporte des Agrarsektors und der Handel mit Rohstoffen sind Eckpfeiler der Konjunktur. Doch zuletzt kühlte sie nach dem Fall der Rohstoffpreise ab; Lebenshaltungskosten, Mieten und Immobilienpreise stiegen an.

Die Probleme des Landes sind weiter enorm, ebenso wie die ungleiche Verteilung des Reichtums. Millionen Familien sind auf staatliche Unterstützung aus Sozialprogrammen angewiesen. Ein mangelhaftes Verkehrswesen, prekäre Arbeitsbedingungen, die Misere der öffentlichen Bildung und Gesundheit, Gewalt und Kriminalität, korrupte Politiker und unfähige Behörden erschweren das Leben im "Land der Zukunft", wie sich Brasilien gern nennt. Die PT, die auf Koalitionen auch mit der Rechten angewiesen ist, kommt mit der versprochenen Bodenreform kaum voran.

Die Metropolen, allen voran São Paulo, erleben einen Verkehrskollaps. Immer mehr Autos stehen im Dauerstau, der Nahverkehr ist teuer und schlecht organisiert. Von den Milliarden, die für Bauten in den zwölf Ausrichterstädten der FIFA-WM-Endrunde im kommenden Jahr und zur Vorbereitung der Olympischen Spiele 2016 aufgewendet werden, versickert viel durch Korruption oder fließt in die Taschen der Organisatoren, die sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen in den Städten orientieren. Einen Preis für die beiden weltgrößten Sportereignisse zahlen bereits jetzt zehntausende ärmere Bewohner, die brutal aus ihren Quartieren verdrängt wurden.

Gewerkschaften planen Streiks

Der Confed-Cup im Juni - Testturnier vor der WM - war somit geeigneter Anlass für weitere Proteste und verschaffte ihnen weltweit Aufmerksamkeit. Allein die Senkung der Fahrpreise beruhigte die Menschen nicht. Auf den Straßen artikulierte sich eine Unzufriedenheit, die die Soziologin Debora Dornelas Sobral als "Grundton der sozialen Realität Brasiliens" bezeichnet. Für die Linke sei der Moment gekommen, "die Demokratisierung des Gemeinwesens durch mehr Bürgerbeteiligung voranzutreiben". Hier kann man auf Erfahrungen wie die "partizipativen Haushalte" zurückgreifen.

Dilma Rousseff setzt auf einen Dialog mit den am Protest beteiligten sozialen Bewegungen. Das von ihr angestoßene Projekt einer Politikreform greift die wirtschaftliche und politische Oligarchie an. Gewaltige Investitionen sollen in Transport, Bildung und Gesundheitswesen fließen. Den Versuchen der Rechten, sich die Straße anzueignen, linke Parteien und soziale Gruppen auszugrenzen, treten auch die brasilianischen Gewerkschaften entgegen.

Einen wichtigen Akzent setzte ihr nationaler Aktionstag am 11. Juli. Der Dachverband CUT koordiniert sich mit Dutzenden Organisationen, damit es auf der Straße weiter um progressive Ziele geht, Ziele wie Arbeitszeitverkürzung, gerechte Steuern und die Demokratisierung der Medien.

Ein Schwerpunkt ist der Kampf gegen eine Gesetzesvorlage im Nationalkongress, die den Unternehmen das Outsourcing ihres Kerngeschäfts an Subunternehmer ermöglichen würde. Die Gewerkschaften sehen darin eine Ausweitung von prekärer Beschäftigung. Für den 30. August sind Streiks und Proteste im ganzen Land geplant. "Der Juni war eine Lektion für uns", sagt Ricardo Patah, der Präsident der drittgrößten Gewerkschaft UGT. Die Jüngeren hätten sich von der Gewerkschaftsbewegung entfernt. Die müsse sich erneuern und junge Leute gewinnen.