Auf der Straße gegen die Regierung: Demonstration der Opposition am Nationalen Frauentag in Tunis

Ein Meer roter Fahnen mit Stern und Mondsichel. Die Tunesier demonstrieren seit August immer wieder gegen ihre Regierung: "Verschwindet", rufen sie. Die Oppositionellen fordern die Ablösung der Regierung und die Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung. "Wenn unsere letzten Demonstrationen mit bis zu 500.000 Menschen noch nicht reichen, um der Regierung ihre Situation klarzumachen, dann werden wir immer mehr werden", sagte Hamma Hammami, Sprecher der Volksfront, ein Bündnis der linken Parteien.

Zweieinhalb Jahre nach dem Beginn der tunesischen Revolution, die zum Sturz des Herrschers Zine al-Abidine Ben Ali führte und den Auftakt zu den Protesten auch in Ägypten und Libyen gab, sind die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft längst nicht eingelöst. Stattdessen wächst der Zorn auf die regierende Koalition, die aus zwei säkularen Parteien, dem Kongress für die Republik (CPR) und Ettakotol, sowie der dominierenden islamistischen Partei Ennadha besteht. Die Islamisten wurden bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011 mit 37 Prozent der Stimmen stärkste Partei.

Protestwelle nach dem Attentat

Auslöser der jüngsten Protestwelle in Tunesien war das Attentat auf den linken Oppositionspolitiker Mohamed Brahmi am 25. Juli, nachdem bereits am 6. Februar der gewerkschaftsnahe Regierungskritiker Chokri Belaïd ermordet worden war. Die Empörung ist groß, die Trauer landesweit: Beide Politiker galten als aufrechte Kämpfer und waren beliebt. Inzwischen hat die Regierung das der Al-Kaida nahestehende Netzwerk Ansar al-Scharia für die Morde verantwortlich gemacht und das Netzwerk zur terroristischen Vereinigung erklärt. Viele Tunesier halten jedoch die Regierung unter dem islamistischen Ministerpräsidenten Ali Larayedh für mitverantwortlich. Sie fordern den Rücktritt der Regierung und die Bildung einer parteilosen Expertenregierung.

Es ist ein breites Spektrum der Opposition, von den Links- bis zu den Mitte-Rechts-Parteien, unterstützt von der einflussreichen Gewerkschaft UGTT, das die Proteste in Tunesien organisiert. Die Mitte-Rechts-Partei Nida Tounes hat sich mit der linken Volksfront zur Nationalen Heilsfront zusammengeschlossen. "Verhandlungen ohne Auflösung der Regierung sind Zeitverschwendung", sagt Taieb Baccouche von der Heilsfront. Ein weiteres Mitglied, Jilani Hammami, warf den Islamisten vor: Während der islamistische Terror heruntergespielt oder gar nicht verfolgt werde, wanderten polizeikritische Rapper und Karikaturisten sofort ins Gefängnis.

Land im Chaos

Die islamistische Ennadha hat im September dem Druck der Straße nach- gegeben und sich zum Rücktritt bereit erklärt. Sie verspricht, auf baldige Wahlen hinzuarbeiten. Doch die Opposition glaubt nicht daran, denn die Aussagen der Regierung ändern sich täglich. "Die Menschen sind enttäuscht. Die Ennadha will Fakten schaffen, immer mehr ihrer Leute in politische Ämter bringen und so die Wahlen zu ihren Gunsten beeinflussen", sagt der Gewerkschafter Moncef Zghidi. "Es geht ihr scheinbar nur um ihre Macht, nicht um das Land. Die Islamisten haben Zulauf verloren. Das Land zerfällt in Chaos, die Korruption blüht."

Gewerkschaft will vermitteln

Die Gewerkschaft UGTT versucht seit Wochen, zwischen der oppositionellen Nationalen Heilsfront und der islamistischen Regierung zu vermitteln. Sie wehrt sich allerdings gegen die Forderung der Linken, die Verfassungsgebende Versammlung aufzulösen. Die zerstrittene Versammlung hat nach zweijährigen Versuchen, ein neues Grundgesetz für Tunesien zu formulieren, ihre Tätigkeit unterbrochen, viele Mitglieder haben ihre Arbeit niedergelegt.

Unversöhnlich läuft die Diskussion in der Versammlung. "Sie streiten darüber, wie man universelle Werte mit den islamischen in Einklang bringt", sagt die Anwältin und Menschenrechtlerin Radhia Nasraoui. "Tunesien ist das einzige islamische Land, das die Scharia nicht in der Verfassung hat. Ennadha versucht, das zu ändern und die Scharia reinzubringen."

Trotz des Tauziehens zwischen religiösen und weltlichen Kräften: Ägyptische Verhältnisse sind in Tunesien nicht wahrscheinlich. Es ist nicht anzunehmen, dass das Militär in den Konflikt zwischen der Opposition und den regierenden Islamisten eingreift. Zwar haben die Generäle beim Sturz Ben Alis letztlich die Forderungen der Straße durchgesetzt und den Diktator zum Aufgeben gezwungen. Aber das Militär ist in Tunis nicht mit Politik und Wirtschaft verfilzt wie in Ägypten, es verfolgt keine machtpolitischen Eigeninteressen. Hinzu kommt: Die tunesische Bevölkerung ist gebildet. Die Mehrheit lebt im Speckgürtel an der Küste. Die Islamisten erreichten in Tunesien bei den Wahlen 37, in Ägypten mehr als 70 Prozent. "Die Tunesier haben die Hoffnungen ihrer Revolution noch nicht verloren", sagt der Gewerkschafter Moncef Zghidi. "Aber ich bin realistisch, was die Zukunft betrifft: Wir brauchen mehr Kompetenz, mehr Ehrlichkeit. Und Wahlen."