Der Online-Versandhändler Amazon wappnet sich in der Auseinandersetzung um einen Einzelhandels-Tarifvertrag. Die Amazon-Beschäftigten haben schon einiges erreicht. Aber ihr Ziel bleibt der Tarifvertrag, deshalb weiten sie ihre Streiks und Aktionen aus

Leipzig, 20. September 2013: Hunderte Amazon-Beschäftigte aus Leipzig und Bad Hersfeld brechen auf und tragen ihren Protest in die Stadt

"Zuerst einmal guten Tag an alle. Schön zu sehen, dass Ihr heute wieder dazu beitragt, Kundenerwartungen zu erfüllen." So werden derzeit alle Amazon-Beschäftigten an den Standorten in Werne und Rheinberg bei Schichtantritt von den sogenannten Area Managern begrüßt. An den nordrhein-westfälischen Amazon-Versandzentren sind die dieser Tage angewiesen, ihren Untergebenen eine Bekanntmachung des stellvertretenden Geschäftsführers Thomas Weiß vorzulesen. Und der holt darin zum Schlag gegen ver.di aus: Die Gewerkschaft wolle mit ihren Streiks für einen Tarifvertrag "unser Kundenversprechen brechen". Und: "Wer damit droht, [...] schadet Amazon und damit Euch allen." Was nichts anderes heißen soll, als dass ver.di die Arbeitsplätze bei Amazon gefährde.

Das ist die Peitsche. Das Zuckerbrot wird hinterhergeschoben: "Wir zahlen mehr als in der Logistikindustrie in unserer Region üblich ist. Wir zahlen Boni, die nicht Teil üblicher Tarifverträge sind. Wir zahlen Aktien, die ebenfalls nicht Teil üblicher Tarifverträge sind. Und wir zahlen mehr Zuschüsse für die Altersvorsorge, als wir es nach Tarif tun müssten." Das klingt toll, nur: Die Wirklichkeit dahinter ist eine andere.

Toilettenzeiten minutiös notiert

Zu den Lohnerhöhungen im zurückliegenden Jahr haben die Geschäftsführungen an allen Standorten allein die Streiks und Aktionen der Amazon-Beschäftigten getrieben. Auch die erstmals angekündigten Weihnachtsgeld-Zahlungen, Klimaanlagen, längere Pausenzeiten, bessere Pausenräume wären ohne den Druck der Beschäftigten mit Unterstützung von ver.di nur eine schöne Vorstellung geblieben. Und was die Altersvorsorge betrifft, profitieren davon im besten Fall die unbefristeten Mitarbeiter/innen, die aber immer weniger werden. Leiharbeiter/innen aus dem Ausland und - nachdem eine ARD-Dokumentation in diesem Jahr diese Praxis angeprangert hat - zunehmend nur noch befristet Beschäftigte haben rein gar nichts davon.

Am neuen Amazon-Standort in Brieselang in Brandenburg, der bereits eröffnet ist, aber erst im Dezember 2013 voll in Betrieb gehen wird, sehen die Verhältnisse so aus: Von den 400 Arbeitsplätzen dort sind nur 70 unbefristet. Anstatt des mit dem brandenburgischen Wirtschaftsministerium abgestimmten Einstiegsstundenlohns von 9,55 Euro erhalten die Befristeten lediglich 8,54 Euro. Auch verabredete Zuschläge für Überstunden, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit, Aktienanteile, betriebliche Altersvorsorge - es gibt sie nicht für die Befristeten, das Gros der Beschäftigten. Hinzu kommt ihre permanente Überwachung, und sei es beim Gang zur Toilette. Amazon jedoch wird laut Auskunft des brandenburgischen Wirtschaftsministers Ralf Christoffers, Die Linke, bei einem Investitionsvolumen von 20 Millionen insgesamt 1,2 Millionen Euro Fördermittel des Landes bekommen.

"Bei uns ist es schon mehr als einmal vorgekommen, das Toilettenzeiten minutiös notiert wurden", sagt eine Amazon-Beschäftigte aus Bad Hersfeld, die ihren Namen lieber nicht nennen möchte. Am 20. September ist sie mit rund 200 Kolleg/innen aus Hessen zum Amazon-Standort nach Leipzig gefahren, um mit den Beschäftigten dort gemeinsam zu streiken und auf einer sieben Kilometer langen Route durch die Stadt für einen Tarifvertrag zu demonstrieren. Sie hat nicht wirklich Angst um ihren Arbeitsplatz, sie ist schon seit zehn Jahren dabei. Aber sie hat schon mehr als ein persönliches Gespräch mit ihren Vorgesetzten hinter sich, weil ihr "Soll" nicht stimmte. Als sogenannte Pickerin, ausgerüstet mit einem Handscanner, läuft sie von einem Regal zum nächsten in den riesigen Lagerhallen und bringt bestellte Waren zu den Packstationen. "Die Leeds kontrollieren alles, auch wie lange man zwischen den Regalen steht", sagt sie.

Wer keinen Akkord bezahlt, kann keinen verlangen

Ihr Kollege Mirko Bernstedt, der mit der Eröffnung des Versandzentrums in Bad Hersfeld 1999 bei Amazon begonnen hat zu arbeiten, erzählt von einem anderen Kollegen, dem unter dem Vorwurf, zu schlecht gearbeitet zu haben, gekündigt wurde. Der Kollege wiederum habe geklagt und gewonnen. "Amazon musste ihn wieder einstellen, weil Amazon keine Akkordlohnverträge abschließt und auch nicht nach Akkord zahlt", sagt Mirko Bernstedt. Auch um solche Auseinandersetzungen zukünftig zu vermeiden, wollen die Streikenden einen Tarifvertrag nach Maßgaben des Einzelhandels. Mirko Bernstedt trägt auf der Demonstration ein Schild vor seinem Bauch, auf dem steht: "Gegen Obrigkeits- und Almosendenken werden wir Amazon zum Tarifvertrag lenken."

Drohungen wie, ver.di schädige Amazon und sie, die Beschäftigten, verpuffen bei den Streikenden wie im Nichts. Mirko Bernstedt weiß sehr genau, dass von einer Gefährdung des Unternehmens eigentlich keine Rede sein kann. Allein von 2011 auf 2012 hat Amazon seinen Umsatz um 27 Prozent gesteigert, allein auf dem deutschen Markt, dem zweitgrößten, immerhin um 21 Prozent.

Aber Amazon wappnet sich. Und das nicht nur mit Ansprachen an seine Beschäftigten. In Bad Hersfeld gibt es bereits seit dem letzten Jahr Weihnachtsgeschenke für die Mitarbeiter/innen, auf denen nicht mehr nur "Amazon" appliziert wird, sondern nun "Amazon Logistik". In der Auseinandersetzung mit ver.di ist dies der entscheidende Punkt: Amazon ist ein klassisches Handelsunternehmen, das Waren aufkauft oder inzwischen auch selbst produzieren lässt, die es dann per Versandhandel weiter vertreibt. Die reine Logistik des Transports übernimmt an jedem Standort eine DHL-Flotte, die am 20. September, einem der Streiktage, in Leipzig sichtbar weniger zu tun hat. Kaum ein LKW verlässt die Laderampe.

Ein Tarifvertrag entsprechend der Logistikbranche würde für Amazon deutlich günstigere Personalkosten bedeuten. Deshalb sagt das Unternehmen, es orientiere sich an den in der Logistik üblichen Stundenlöhnen. Vor einem Jahr konnten die Leipziger Beschäftigten einen um 10 Prozent höheren Stundenlohn erstreiten, von 9,58 Euro stieg er auf 10,57 Euro. Seit September 2013 bekommen sie noch einmal 4 Prozent mehr. Der Stundenlohn liegt jetzt bei 10,99 Euro. Marco Alschner, der als sogenannter Schipper die LKWs belädt, sagt: "Uns geht es nicht allein ums Geld, wir sind jetzt schon fast am Stundenlohn vom Tarifvertrag im Einzelhandel dran. Aber wir wollen den Tarifvertrag, weil uns das ja ansonsten jederzeit wieder genommen werden kann."

In Leipzig erhalten die Amazon-Beschäftigten inzwischen Unterstützung von Studierenden der Leipziger Universität. In einer Woche in den Semesterferien haben sie 500 Unterschriften und Solidaritätsbekundungen von Kommiliton/innen gesammelt und Flyer an die Bevölkerung verteilt. Und das sei erst der Anfang. Auf der Kundgebung vor der Leipziger Oper sagt einer der Studenten: "Wir sind alle Amazon. Wir alle wollen Löhne, mit denen wir nicht nur überleben, sondern mit denen wir leben können." Das sehen die Amazon-Beschäftigten ganz genauso. Dann kann man nämlich auch wieder an die Kunden denken.

Amazon in Zahlen

  • 1994 gegründet in Seattle, USA
  • 91.300 Beschäftigte weltweit (Stand September 2013)
  • 9000 Beschäftigte in Deutschland
  • 61,09 Milliarden Dollar Umsatz 2012 weltweit 48,07 Milliarden Dollar waren es 2011
  • 34,81 Milliarden Dollar Umsatz 2012 in Nordamerika
  • 8,7 Milliarden Euro Umsatz 2012 in Deutschland; im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von 21 Prozent
  • Deutschland ist nach Nordamerika der zweitgrößte Absatzmarkt, gefolgt von Japan und Großbritannien
  • 7 Versandzentren betreibt Amazon bisher in Deutschland: Bad Hersfeld, Graben, Koblenz, Leipzig, Pforzheim, Rheinberg und Werne
  • Das 8. Versandzentrum eröffnet im Dezember in Brieselang bei Berlin