Andreas Zumach ist internationaler Korrespondent in Genf

Thomas Mann beim Untergang eines Flüchtlingsbootes vor der amerikanischen Ostküste ertrunken; Willy Brandt auf der Flucht vor den Nazis an der norwegischen Grenze festgenommen und nach Deutschland zurückgeschickt; Bertolt Brecht begeht nach monatelanger Haft in einem kalifornischen Internierungslager für illegale Flüchtlinge Selbstmord. So oder ähnlich hätten die Schlagzeilen lauten können, hätten die USA, die skandinavischen Länder und die Staaten Lateinamerikas zwischen 1933 und 1945 eine ähnlich rigide und menschenverachtende Abwehr- und Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge betrieben, wie sie heute die EU erbarmungslos exekutiert gegenüber den verzweifelten Menschen, die aus Syrien, Irak, Afghanistan oder verschiedenen Ländern Afrikas vor Diktaturen, Krieg oder vor dem Verhungern nach Europa fliehen wollen.

Zahlreiche schon damals berühmte oder erst nach 1945 bekannt gewordene Literaten, Filmemacher, Musiker und auch Politiker hätten die Verfolgung durch die Nazis nicht überlebt. Und mit ihnen über eine halbe Million namenloser Flüchtlinge, die zwischen 1933 und 1945 in 80 Staaten außerhalb der von Nazideutschland besetzten Länder Europas Aufnahme fanden.

Die Vertreibungs- und Fluchterfahrungen dieser zwölf dunklen Jahre führten zur Verankerung des "Grundrechts auf Asyl" im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und zu ähnlichen Bestimmungen in anderen Ländern. Und mit der 1951 im Rahmen der UNO vereinbarten "Genfer Flüchtlingskonvention" wurden erstmals internationale, völkerrechtlich verbindliche Regeln für den Umgang mit Flüchtlingen geschaffen. Die in den letzten zwanzig Jahren systematisch verschärfte Abwehr- und Abschottungspolitik der EU gegenüber Flüchtlingen mit rechtlichen, administrativen sowie polizeilichen und militärischen Maßnahmen (Frontex) sind ein klarer Verstoß gegen Geist und Buchstaben der Genfer Konvention. Hauptbetreiber dieser Politik und auch ihr bislang größter Profiteur ist die Bundesrepublik Deutschland.

Mit der 1992 im Konsens von CDU/CSU, FDP und SPD beschlossenen De-facto-Abschaffung des "Grundrechts auf Asyl" schuf das größte und wirtschaftlich stärkste EU-Mitglied ein schlechtes Vorbild, dem andere Mitglieder bald nachfolgten. Und mit seinem politischen und ökonomischen Gewicht und Einfluss in Brüssel war Deutschland zumeist federführend verantwortlich für die Schaffung all jener EU-Vereinbarungen und -Instrumente, die zu der katastrophalen Flüchtlingsnot in den südlichen und südöstlichen Mitgliedsstaaten und zu dem Massensterben vor ihren Küsten geführt haben.

Die aus deutscher Sicht wichtigste Vereinbarung sind die Dublin-Bestimmungen, wonach Asylverfahren von Flüchtlingen in dem EULand stattfinden müssen, das sie als erstes betreten. "Dank" dieser Dublin-Bestimmungen sank die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber, die überhaupt noch das Territorium Deutschland erreichen, bis 2011 auf die tiefste Marke seit 1977. Zugleich stiegen die Zahlen der Flüchtlinge und Asylbewerber in Italien, Griechenland, Malta und Spanien auf ein dramatisches und von diesen Ländern nicht mehr zu bewältigendes Ausmaß an, zumal diese derzeit auch noch von einer massiven Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit gebeutelt sind. Doch von Solidarität mit den "Partnern" in Süd- und Südosteuropa in Berlin keine Spur. Kaltherzig und kompromisslos lehnte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem letzten EU-Gipfel Ende Oktober alle Wünsche nach einer Revision der Dublin-Bestimmungen und einer gerechteren "Lastenverteilung" zwischen den EU-Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen ab.

Ganz besonders schändlich ist das Verhalten der reichen EU-Vormacht Deutschland angesichts der syrischen Flüchtlingskatastrophe. Bis Ende Oktober sind über 2,8 Millionen Menschen aus Syrien geflohen. Hinzu kommen 6,5 Millionen Binnenvertriebene. Die Hauptlast dieser größten Flüchtlingskatastrophe seit Ende des Kalten Krieges tragen bislang Syriens unmittelbare Nachbarstaaten Libanon, Jordanien und Irak. Drei wirtschaftlich schwache, unstabile und zum Teil ebenfalls von internen Gewaltkonflikten zerrissene Länder, in denen zudem schon seit Jahrzehnten mehrere hunderttausend palästinensische Flüchtlinge leben. Auf alle Dringlichkeitsappelle der UNO, zur Entlastung dieser drei Erstaufnahmeländer zumindest vorrübergehend syrische Flüchtlinge in Deutschland zu beherbergen, hat die Regierung Merkel monatelang nicht reagiert. Jetzt dürfen ganze 5000, zudem sorgfältig ausgesuchte Flücht- linge nach Deutschland kommen. Dass es auch anders geht, zeigt das EU-Mitglied Schweden, das seine Grenzen ohne Einschränkung für syrische Flüchtlinge geöffnet hat.

Hauptbetreiber dieser Politik und auch ihr größter Profiteur ist die Bundesrepublik Deutschland