Dass die Arbeitsbedingungen bei Lidl in Polen noch schlimmer sind als in so manchem anderen europäischen Land, wurde schon in dem 2006 erschienenen Schwarz-Buch Lidl Europa belegt. Seitdem hat sich bei der in Neckarsulm ansässigen Discounter-Kette im östlichen Nachbarland einiges verändert. Allerdings: zum Schlechteren. "Nur wer 1800 Produkte stündlich über den Scanner zieht, bekommt den vollen Lohn", sagte Jan Mosinski, Vorsitzender der Gewerkschaft NSZZ Solidarność in der Wojewodschaft Wielkopolskie, kürzlich bei einer Veranstaltung. Und dieser Lohn liege nur bei einem Viertel dessen, was deutsche Lidl-Beschäftigte erhalten - bei steigenden Lebenshaltungskosten. Da zudem in den 500 polnischen Filialen immer weniger Personal beschäftigt wird und die Arbeitsbelastung stetig wächst, sollte die Gründung einer Betriebsorganisation der Gewerkschaft (entspricht in etwa einem Betriebsrat) bei der Abhilfe der Missstände helfen. Im Januar 2013 nahm die Arbeitnehmervertretung ihre Arbeit auf, elf Monate später erhielten die Vorsitzende und ihre Stellvertreterin die außerordentliche Kündigung. Aus diesem Grund rief die Gewerkschaft Anfang Februar zum Boykott der Discounter-Filialen auf.

in kleinster Münze bezahlt

"Anfangs hatte ich gehofft, dass Lidl einfach nicht wusste, wie es in vielen Filialen zugeht - und dass das Unternehmen mit uns kooperieren würde", sagt die gekündigte Vorsitzende Justyna Chrapowicz. "Doch sehr schnell war klar, dass der Arbeitgeber keinerlei Interesse hatte, sich mit den Problemen zu befassen." Ihr bitteres Resümee: Die Geschäftsleitung diffamierte ihr Gremium als "illegal". Bei Treffen mit Vertretern der Geschäftsleitung gab grundsätzlich Lidl die Themen vor. Nachdem die Gewerkschaft erste Protestaktionen vor Lidl-Filialen gestartet hatte, kam postwendend die Kündigung für Justyna Chrapowicz und ihre Stellvertreterin.

"In Deutschland, wo Lidl zu Hause ist, wäre die Kündigung von Gewerkschaftsfunktionären und eine offene Bekämpfung einer legal agierenden Gewerkschaft undenkbar", heißt es im Boykott-Aufruf von Solidarność. Bei verschiedenen Aktionen vor den Filialen erreichte die Gewerkschaft inzwischen etliche Kunden, die sich nach der Lektüre eines Flugblatts über die Arbeitsbedingungen bei Lidl für den Einkauf anderswo entschieden. "Wichtig ist, die Menschen über die miserablen Arbeitsbedingungen bei Lidl zu informieren", erklärt Lukasz Kopec von Solidarność. "Wer weiß, dass das Unternehmen trotz steigender Umsätze Personal abbaut und keine Sozialleistungen gewährt, unterstützt unsere Aktion." Solidarność hofft, mit dem Boykottaufruf den Erfolg einer ähnlichen Aktion gegen die Handelskette Biedronka vor einigen Jahren zu wiederholen. Dort werden inzwischen Arbeitnehmerrechte respektiert und bessere Löhne gezahlt.

Am 1. März rief Solidarność zu einem ungewöhnlichen Einkauf bei Lidl auf: Bezahlt wurden alle Waren nur mit 1-Groszy-Münzen, den kleinsten Einheiten der polnischen Währung. Weitere Aktionen sollen folgen. Unterstützung gab es anlässlich des Internationalen Frauentags auch bei einer Veranstaltung des DGB Berlin-Brandenburg, die sich ebenfalls mit den Arbeitsbedingungen bei Lidl Polen befasste. Gudrun Giese