ALBRECHT MÜLLER war einst enger Mitarbeiter von Willy Brandt und ist heute erfolgreicher Politblogger *

Eigentlich denken wir ja, Wahnsinn könne sich nicht wiederholen. Ich jedenfalls war bis vor kurzem so naiv zu glauben, kriegerische Auseinandersetzungen könne es bei uns in Europa nicht mehr geben. Mein Irrglaube gründete auf der Annahme, wir Menschen seien überwältigt vom Grauen der Kriege, wir hätten gelernt, dass militärische Auseinandersetzungen nichts, aber auch gar nichts bringen außer Elend und unendlichem Leid.

Ebenfalls irrtümlich hatte ich geglaubt, wir seien alle so klug geworden, dass wir einfühlsam mit unseren Nachbarn umgehen. Eine Politik der Stärke und des Säbelrasselns, so dachte ich, sei irgendwie überholt. "Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, im Innern und nach außen" - diese Willenserklärung von Willy Brandt für seine im Oktober 1969 gebildete sozialliberale Regierung sei eine Wegweisung für die Zukunft, also nicht nur für damals, sondern für heute und für morgen und übermorgen, so dachte ich. Ein Traum!

Jetzt wache ich auf und lese und höre und sehe jeden Tag unverantwortliche Verantwortliche. Sie sagen: Wir müssen die Russen bestrafen. Wenn Putin nicht pariert, dann gibt es noch mehr Sanktionen. Wir verlegen Kampfjets in die baltischen Staaten und damit an die Grenze zu Russland. Die Nato muss weiter ausgedehnt werden.

In der Ukraine hat die Nato schon vor der letzten Krise einen Werbefeldzug für den Beitritt gestartet. Versprochen hatten wir aber 1990 beim Ende der Konfrontation zwischen Ost und West, dass die Nato nicht über Deutschland hinaus ausgedehnt wird. "Europa bleibe hart", fordert Joschka Fischer 20 Jahre später. Sanftheit werde in Moskau als Ermutigung begriffen. Wir müssen uns aus der Energieabhängigkeit lösen. Wir müssen die Europäische Union erweitern bis an die Grenzen Russlands, überall. Und wer, wie der Siemens-Chef, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland verteidigt und weiter dort investieren will, der wird vom diensthabenden ZDF-Moderator streng verhört und bekommt einen Anschiss als Vaterlandsverräter.

"Wandel durch Annäherung" hieß die Parole, genauer gesagt, die strategische Überlegung der bundesdeutschen Regierung in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als man sich auf den Weg machte, die Konfrontation der Atommächte mitten in Europa abzubauen. Das war eine der wenigen politischen Strategien einer deutschen Bundesregierung, die auf lange Sicht angelegt war. Und sie war erfolgreich. Die Mauer fiel. Die Konfrontation zwischen Ost und West wurde beendet, oder besser: Sie schien beendet. Jedenfalls war es Ziel der damals Regierenden, also Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl bei uns in Deutschland sowie Breschnew und dann Gorbatschow in der damaligen Sowjetunion, dass die Konfrontation endgültig der Vergangenheit angehört.

"Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine Europäische Friedensordnung abzulösen", beschloss die SPD in ihrem Berliner Grundsatzprogramm am 20. Dezember 1989. Und weiter heißt es dort zur Europäischen Union: "Die europäische Gemeinschaft ist ein Baustein einer regional gegliederten Weltgesellschaft. Sie ist eine Chance für den Frieden und die soziale Demokratie. Ganz Europa muss eine Zone des Friedens werden." Ganz Europa! Keine neue Trennung zwischen West und Ost. Schluss mit dem Warschauer Pakt und Schluss auch mit der Nato.

Diese Beschlusslage hat der Rüstungsindustrie nicht gepasst. Und sie hat den westlichen Ideologen nicht gepasst. Sie brauchen Feindbilder. Sie müssen ihren Anhängern erklären: "Die dort sind die Bösen." Sie brauchen das, um zu überdecken, wie unsozial, wie ungerecht, wie undemokratisch es vor der eigenen Haustür zugeht: Wenn man den eigenen Geheimdienst hemmungslos foltern lässt, wenn man einen anderen Geheimdienst, die NSA, ganze Völker ausspionieren lässt, wenn man Wirtschaftsspionage betreibt, wenn man mit Drohnen unschuldige Menschen ermordet, wenn man zuhause das altertümliche und undemokratische Instrument der Todesstrafe praktiziert, wenn man ausländische Journalisten in Netzen zusammenfügt und sie gleichgeschaltete Berichte, Analysen und Kommentare schreiben lässt, wie das die USA bei uns praktizieren - dann braucht man einen Feind, von dem man behaupten kann, er sei noch schlimmer, er sei das Böse. Neuerdings ist es Russlands Präsident Putin. Das muss man dann ständig behaupten und gewalttätig tun und aggressiv tun, damit die Leute vergessen zu fragen, wie es im eigenen Machtbereich aussieht.

Das hatte ich bisher anders gesehen, weil ich es anders sehen wollte, weil ich wie viele Menschen verdrängen will, dass es krachen könnte und ich noch einmal erleben muss, was ich als Kind erlebt habe.

als Herausgeber der NachDenkSeiten - www.nachdenkseiten.de

Jetzt wache ich auf und lese und höre und sehe jeden Tag unverantwortliche Verantwortliche