Ausgabe 06/2014
Von Demokratie und Kapital
Pianist Jesus Reyes aus Venezuela vor vollem Saal
"Die Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie brauchen, um Bürgerin und Bürger sein zu können, Ausbildung und Auskommen, sie brauchen eine leidlich gesicherte Existenz, sie müssen frei sein können von Angst. Nicht die freie Entfaltung des Kapitals ist das Anliegen der bürgerlichen Freiheitsrechte, sondern die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes Einzelnen."
Professor Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und Leiter des Ressorts Innenpolitik, steckte einleitend das Terrain ab, auf dem er sich als Gastreferent beim inzwischen schon traditionellen ver.di-Empfang für neu gewählte Betriebsrätinnen und Betriebsräte bewegen wollte. Ein weites Feld, dem die Festvortrags-Überschrift "Demokratie im Betrieb" nur zum Teil gerecht wurde. In seinem Exkurs zu gesellschafts-, wirtschafts- und nicht zuletzt rechtspolitischen Fragen im Lauf der Geschichte verstand es der Journalist und Jurist Prantl, die in großer Zahl gekommenen Betriebsrats-Mitglieder immer wieder in die Gegenwart zu führen und Probleme anzusprechen, denen sich viele Menschen gegenwärtig, weit über die unmittelbar betriebsbezogenen Konflikte hinaus, ausgesetzt sehen.
Kapital ohne Rücksicht
Mit Dank an die Neu- und Wieder- gewählten hatten der ver.di-Ortsvorsitzende Harald Pürzel und Landesleiterin Luise Klemens den Abend eingeleitet, der in diesem Jahr erstmals in den schönen Räumlichkeiten des Jüdischen Gemeindezentrums am Münchner Jakobsplatz stattfand. Der Pianist Jesus Reyes aus Venezuela, der die Veranstaltung musikalisch begleitete, führte zum Teil in Regionen, die in Heribert Prantls Ausführungen ebenfalls eine Rolle spielten.
Prof. Dr. Heribert Prantl
"Seitdem die Arbeit ihren Wert verliert," meinte Prantl, "seitdem immer weniger Menschen zur Herstellung eines Produkts benötigt werden, seitdem sich das Kapital die Arbeit, die es noch braucht, auf der ganzen Welt preiswert aussuchen kann, Arbeitskraft nicht mehr nur lokal, sondern global austauschbar ist, seitdem mag das Kapital die Rücksichten nicht mehr nehmen, die es vorher genommen hatte, weil es diese Rücksichtnahme zur Erhaltung oder zur Förderung des Wirtschaftssystems und des Profits vermeintlich nicht mehr oder sehr viel weniger braucht."
So verwunderte es nicht, dass der Referent mit seinem "Demokratie"- Thema schließlich auch bei jenen "Freihandels"-Fragen ankam, die einige unter uns inzwischen umwelt- und auch gewerkschaftspolitisch beschäftigen, die aber dennoch, wie so vieles, im "allgemeinen" Bewusstsein in ihrer Brisanz bisher kaum erkannt werden. Prantl zu diesen aktuellen Projekten: "Die Lage darf nicht durch Vereinbarungen wie TTIP oder TISA noch weiter verschlechtert werden. Dienstleistungen der Daseinsvorsorge sind von den TTIP-Verhandlungen nicht ausgenommen. Gewerkschaften und NGOs befürchten Angriffe auf Sozial-, Umwelt- und Verbraucherrechte. Ich fürchte, dass sie das zu Recht befürchten."
Weshalb der Referent die "Investi- tionsschutzregeln" im TTIP-Abkommen für die Anwesenden "ins Verständliche" übersetzte: "Die ungestörte Investi- tionsausübung ist gewährleistet. Kein Großinvestor darf gegen seine Interessen zu Umweltschutz, Kündigungsschutz, Datenschutz, Verbraucherschutz und zu sozialer Verantwortung gezwungen werden."
So wurde an diesem gehaltvollen Abend ein Bogen geschlagen von der Demokratie im Betrieb hin zur Notwendigkeit solidarischer Gegenwehr weit über die eigenen Gartenzäune hinaus. Ein bisschen zu kurz kamen dabei vielleicht Rolle und Einfluss von Massenmedien bei all diesen Entwicklungen. Aber das wäre wohl ein bisschen zu viel verlangt gewesen - allein schon aus Zeitgründen.