Blind vor Liebe

Katja Kettu: Wildauge - Sie ist Mitte dreißig und noch Jungfrau, als sich die Hebamme aus dem finnisch-russischen Grenzstädtchen Petsamo in den SS-Offizier Angelhurst verliebt. Die von archaischen Kräften beseelte Finnin mit dem Jieper nach Tonerde lässt alles stehen und liegen, um dem Mann als Krankenschwester im berüchtigten Gefangenenlanger Titowka nahe zu sein. Sie wird zur "finnischen Hilfs-willigen", zur Kollaborateurin mit den Besatzern, was ihr zunächst nur Kopfschütteln ihrer Bekannten, aber auch deren Unterstützung einhandelt. Noch sind Finnen und Deutsche Waffenbrüder an der näher rückenden russischen Front.

Kettu siedelt die Liebesgeschichte an der Schnittstelle des Fortsetzungskrieges zwischen Finnland und Russland und dem folgenden Lapplandkrieg mit den Deutschen an, die auf Geheiß Russlands nun aus dem Land gekegelt werden mussten. Erst jetzt, berichtete die Autorin bei der Frankfurter Buchmesse, sei das Thema der finnisch-deutschen Besatzerkinder in ihrem Land angekommen; die Auseinandersetzung mit der unrühmlichen eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg habe sich auch in Finnland lange Zeit auf "Flüstereien, Andeutungen" beschränkt.

Die verächtliche Behandlung als "Bankert" eines angeblich getöteten Kommunisten und einer Lappin wird auch Wildauge zuteil. Den frühen Missbrauch durch den Ziehvater verdrängt sie mit ebensolcher Selbsterhaltungsmacht wie die grausigen Taten ihres Liebsten und denen, die sie selbst für ihn begehen wird. Erst spät erkennt sie in ihm den "grausamen Leisetreter und Weiberheld, gemein in seinem Hass und bequem in der Liebe". Nach einem Einsatz als Kommandeur in Babyn Jar in der Ukraine, wo die Nazis ein Massaker verübten, ist der Mann traumatisiert, drogenabhängig und nicht mehr Herr seiner Sinne. Dennoch hält sie stur an dieser Liebe fest, während ihr tot geglaubter Vater als Doppel- und Dreifachagent im Hintergrund an einem geopolitisch wichtigen Fjord die Fäden zieht, um seine blind agierende Tochter vor allen möglichen Racheakten zu retten. Eine solche Geschichte kann kein Happy End haben, aber sie kann einen Ausblick auf Versöhnung geben. Verwirrend und anregend ist die Erzählstruktur aus unterschiedlichen Perspektiven, die das komplexe Geschehen erst nach und nach freigibt und Zusammenhänge erkennen lässt. Katja Kettu erzählt in versetzten Zeitebenen, springt vor und zurück und entwirft mit großer erzählerischer Tiefe und Spannung ein sprachgewaltiges Panorama von dem Bösen und der Liebe am Ende der Welt. Jenny Mansch

GALIANI BERLIN, AUS DEM FINNISCHEN VON ANGELA PLÖGER, 415 S., 19,99 €


Claude K. Dubois: Akim rennt - In ebenso kunstvollen wie seelenvollen Bildern und mit wenigen Worten erzählt die belgische Zeichnerin und Autorin Claude K. Dubois die Geschichte des Flüchtlingskindes Akim. Der kleine Junge rennt um sein Leben, flüchtet vor dem Krieg, der sein Dorf erreicht und ihn von seiner Familie trennt. Als er schließlich in einem Flüchtlingslager in Sicherheit ist, kommen auch die Bilder zur Ruhe. Aber Akim kann das Schreckliche, das er mitangesehen hat, nicht vergessen und kann nicht mehr spielen. Er klammert sich an ein unterwegs gefundenes Stofftier, das wohl einem Kind gehörte, das nicht so viel Glück hatte wie er. Denn immer wieder strecken sich hilfreiche Hände aus, die ihn mitnehmen, helfen, halten und trösten. - Ein Bilderbuch, das in diesem Herbst mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Mit wenigen Strichen ihrer meisterhaften Zeichnungen zeigt Dubois Angst, Kummer und Schrecken der Flüchtlinge, aber auch das Mitgefühl und den Zusammenhalt. Ein zu Herzen gehendes Buch, das Kinder wie Erwachsene berühren wird. Bettina Klix

BILDERBUCH, AB 6 JAHREN, AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON TOBIAS SCHEFFEL, MORITZ VERLAG, FRANKFURT/MAIN, 2014, 12,95 €


Anna Gavalda: Nur wer fällt, lernt fliegen - Billie, die Ich-Erzählerin und Hauptfigur, ruft sich selbst zu: "Funkle! Glitzere! Gib alles!" Doch es glitzert und funkelt kaum etwas in ihrem Leben. Die junge Frau aus der französischen Unterschicht landet in einem Strudel aus Gewalt, Drogen und Sex. Gavalda lässt sie im O-Ton erzählen: roh, laut und frei heraus. Billie berichtet von ihrer Freundschaft zu Franck, mit dem sie im Schultheater ein Liebespaar spielte. Später verloren sie sich aus den Augen und stolperten durchs Erwachsenwerden. Und heute? Hocken die beiden Außenseiter in einer Felsspalte, in die sie bei einer Wanderung gestürzt sind. Billie nutzt die ausweg-lose Situation zu einem schonungs- losen Rückblick auf ihr Leben und ihre Beziehung zu Franck. "Die Szenerie ist beschissen, die Handlung eher spärlich", behauptet sie mit Blick auf ihre eigene Geschichte. Doch auf Anna Gavaldas unkonventionelle Erzählung aus dem Prekariat trifft dies nicht zu. Ein weiteres starkes Buch von einer der kreativsten französischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Günter Keil

HANSER VERLAG, AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON INA KRONENBERGER, 192 S., 18,90 €


M. Anjelais: Killing Butterflies - Ihre Mütter haben als kleine Mädchen alles vorausgeplant: Sie würden jede ein Kind bekommen, diese würden beste Freunde und sich eines Tages verlieben und heiraten. Und tatsächlich scheint alles nach diesem Plan zu verlaufen, bis sich herausstellt, dass Cadence, ein strahlender, hochtalentierter Junge, anders ist. Gefährlich anders. Die beiden werden sofort voneinander getrennt und doch wird schnell klar, dass sie nie so recht voneinander loskommen. Als Cadence Jahre später Leukämie diagnostiziert wird, ist es sein einziger Wunsch, seine Freundin aus Kindertagen wiederzusehen. Sie kann sich diesem Wunsch nicht entziehen und beschließt, ihm bis zum Tag seines Todes beizustehen und stellt sich selbst und ihren Lebenswillen auf eine harte Probe. Dieses gewühlsgewaltige Debüt lässt den Leser kaum los; wie die Protagonistin befindet man sich im ständigen Zwiespalt, einerseits bewundernd und gebannt, andererseits voller Furcht und Abscheu diesem Jungen gegenüber, der ohne eine kleinste Regung sein Umfeld terrorisiert und Schmetterlinge tötet. Dieses intelligente Jugendbuch ist ein Plädoyer dafür, sich für das Leben zu entscheiden und auf sich selbst zu vertrauen. So wie die 21-jährige Autorin selbst. Sie hat inzwischen das College geschmissen, um sich auf das zu konzentrieren, was sie erfüllt: das Schreiben. Feline Mansch

VERLAG CHICKEN HOUSE, AUS DEM AMERIKANISCHEN VON UWE-MICHAEL GUTZSCHHAHN, 368 S., ALTER 14-18 JAHREN, 16,90 €