Tragisch relevant

Michel Houellebecq: Unterwerfung - Der Literaturprofessor Francois ist der Antiheld in Houellebecqs Erzählung von einem Frankreich auf dem Weg zur Islamischen Republik. Weltentrückt, mit Hang zum Alkohol, pflegt er Zwölfmonatsbeziehungen mit deutlich jüngeren Studentinnen. Die Debatten im Vorfeld und die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 verbringt er zwischen Fusel, Wein, Zigaretten stangenweise, Fingerfood und den weiblichen Reizen seiner Geliebten Myriam, die bereits auf gepackten Koffern sitzt, um die Grande Nation in Richtung Israel zu verlassen.

Die Präsidentschaft Marine Le Pens vom Front National kann einzig durch eine Koalition zwischen der Muslimbruderschaft und den Sozialisten verhindert werden, worauf letztere sich einlassen. Die Wahlen bilden den Auftakt zum Bürgerkrieg. Wenn Francois vorm Fernseher die politischen Entwicklungen verfolgt, verschmelzen vor dem inneren Auge des Lesers Houellebecqs Negativvisionen mit der brutalen Realität der Pariser Attentate und Geiselnahmen vom Januar 2015.

Houellebecqs düstere Schreckensphantasien werden am Tag der Erstver-öffentlichung von Unterwerfung durch die Realität brutal in den Schatten gestellt. Zeitgleich erscheint die Houellebecq-Karikatur auf dem Titelbild von Charlie Hebdo und der Terror in Paris nimmt seinen Lauf - eine außergewöhn- liche und beklemmende Verdichtung von Fiktion und Realität.

Die Übernahme der Staatsmacht durch den gemäßigten Muslimbruder Ben Abbes veranlasst den Professor schließlich zur Landflucht. Der Islamisierung der staatlichen Universitäten folgt seine Zwangspensionierung, doch schon bald werden die Zeiten ruhiger. Es winken neue berufliche Perspektiven, inklusive der Wiedereinstellung, sollte Francois zum Islam konvertieren. Die Aussichten auf drei Ehefrauen und ein deutlich besseres Gehalt haben vor ihm schon andere Kollegen korrumpiert.

Houellebecq ist Anti. Frauen, Muslime, Hochschulangehörige und Franzosen im Allgemeinen kriegen gleichermaßen ihr Fett weg. Ermüdenderweise lässt er kaum ein Klischee aus. So verpasst er beispielsweise der entlassenen Uni-Präsidentin, die auf das Thema Gender Studies spezialisiert ist, einen "ergrauten Igelschnitt". Seine pornografischen Einlagen sind Altmännerphantasien, keine Provokationen. Unterwerfung ist knapp und nicht besonders originell erzählt. Die Anschläge von Paris, weniger die Qualität dieses Romans, machen Unterwerfung zum tragisch relevanten Bestseller. Eckhard Geitz

DUMONT BUCHVERLAG 2015, AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON NORMA CASSAU UND BERND WILCZEK, 272 S., 22,99 €


Jacques Rivière: Der Deutsche - Dieser Deutsche, von dem der Franzose Jacques Rivière nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft schreibt, war für seinen Geist eine "unerträgliche Last". Gleich am Anfang des ersten Weltkrieges gefangen-genommen, versuchte der Autor sich nach seiner Entlassung über das Wesen des Feindes klar zu werden. Da ihn trotz des Erlittenen nicht der Hass antrieb, stürzte er sich fast verzweifelt in das Verstehenwollen und förderte dabei wirklich Erschreckendes zutage. Erkenntnisse, die über die Erfahrungen des ersten Weltkriegs hinausgehen und prophetisch auf die Zeit nach 1933 hindeuten. Atemberaubend ist die Stelle, an der Rivière auf eine Disposition hinweist: "Es gibt ein Wort, für das jeder Deutsche eine heimliche Schwäche hat, welches das größte Lob ist, das er ausstellen kann, und durch dessen steten und liebevollen Gebrauch er seine tiefgreifende moralische Haltlosigkeit verrät. Es ist das Wort anständig." So ist dieses vom kleinen Lilienfeld Verlag nach fast 100 Jahren erstmals auf Deutsch herausgebrachte Buch des früh verstorbenen Rivière ein großes Geschenk an uns. Bettina Klix

LILIENFELD VERLAG 2014, AUS DEM FRANZÖSISCHEN UND MIT EINEM NACHWORT VON DANIELE RAFFALE GAMBONE, 207 S., 19,90 €


Ken Follett: Kinder der Freiheit - Es ist eine breit angelegte, dreibändige Saga, die Ken Follett mit diesem Roman vollendet. Sie umfasst das 20. Jahrhundert und beschreibt Weltgeschichte in enger Verknüpfung mit den Schicksalen ihrer fiktiven Persönlich-keiten. Spannend, mitreißend und unglaublich kenntnisreich. Alle Bände - so auch die Kinder der Freiheit - können isoliert voneinander gelesen werden und ziehen schnell in ihren Bann. In den ersten Romanen, als Taschenbuch erhältlich, stehen die beiden Weltkriege im Mittelpunkt. Das aktuelle Buch setzt Anfang der 60er Jahre ein. Hauptschauplätze sind Washington, London, Berlin und Moskau. Follett erzählt, wie gewaltig sich die Welt in diesen Jahrzehnten verändert hat und welche Ereignisse, Entwicklungen und gesellschaftliche Strömungen dazu geführt haben, etwa bedingt durch Kalten Krieg, Kuba-Krise, Mauerbau und -fall, Bürgerrechtsbewegungen und das stete Engagement für gesellschaftlichen Fortschritt. Zweifellos versteht dieser Autor sein Handwerk und kann historische Fakten lebendig in Romanhandlung verwandeln. Tina Spessert

BASTEI LÜBBE, AUS DEM ENGLISCHEN VON DIETMAR SCHMIDT UND RAINER SCHUMACHER, 1216 S., 29,99 €


Olaf Jahnke: Tod eines Revisors - Wirtschaftskrimis nerven ihre Leser gerne mit hochkomplizierten, spannungstötenden Plots, deren Auflösung einem Betriebswirtschaftsseminar ähnelt. Olaf Jahnke entgeht dieser Gefahr, indem er zwar einen angemessen raffinierten Deal aus den Währungswirren der Wendezeit zum Ausgangspunkt seines ersten Krimis wählt, diesen aber so nachvollziehbar und realistisch darstellt, dass man dem kriminellen Geschehen problemlos folgen kann - ohne dass man freilich zu früh die Täter entdeckt. Jahnke macht zudem die Mode der psychisch gestörten, süchtigen oder kochenden Privatdetektive nicht mit und stellt uns stattdessen mit dem sympathisch normalen Ex-BKA-Fahnder Roland Bernau einen klugen und mutigen Charakter vor, der unter beherztem Einsatz seiner körperlichen Unversehrtheit in die zynische Parallelwelt der Frankfurter Banken eintaucht, um einen Selbstmord als Mord und die feinen Herren als gierige Finanzhaie zu enttarnen, die sich auf Kosten der Steuerzahler bereichern - mit besten Beziehungen zur Politik. Das liest sich flott und aufregend, man merkt vielen nahezu filmischen Szenen an, dass der Autor Kameramann ist. Bis zum Schluss bleibt man neugierig und nach einem fulminanten Showdown ist das Ende so offen, dass es einfach den nächsten Fall für Bernau geben muss. Einzig dessen Frauenbild ist arg klischiert, aber das kann sich ja noch ändern. Ulla Lessmann

FHL VERLAG, 247 S., 13 €