Hinter der Fassade

Riad Sattouf: Der Araber von morgen - "Ach ist der süß!", rufen die einen. "Judenschwein", brüllen die anderen. Ein blondes arabisches Kind sorgt für extreme Reaktionen - das hat der Comic-Zeichner Riad Sattouf am eigenen Leib erfahren. Der Sohn einer Französin und eines Syrers wurde 1978 in Paris geboren. Von seiner Kindheit in Frankreich, Libyen und Syrien erzählt Sattouf nun in einer großartigen Graphic Novel. Sie zeigt die Kluft zwischen Frauen und Männern, Ideologie und Realität, Herrschern und Beherrschten sowie den Generationen in Teilen der arabischen Welt.

Die Geschichte beginnt 1980: Riad ist zwei Jahre alt. Sein Vater Abdel-Razak führt die Familie nach Tripolis, wo er an der Universität lehrt. Sein Traum: ein vereinigtes, modernes Arabien. Gaddafis Libyen erscheint ihm als glänzendes Zukunftsmodell. Für seine Frau und Riad ist der Alltag jedoch hart: Lebensmittel sind knapp, die Familie lebt in einer Bruchbude, das Land wirkt trostlos und arm. Als Abdel-Razak nach ein paar Jahren eine Stelle in Syrien bekommt, ziehen die drei wieder um. In Assads Diktatur herrscht Krieg, Frauen werden diskriminiert, Tiere misshandelt, Juden gehasst. Doch Riads Vater redet sich die Realität schön und versucht, seinen Sohn für seine Ideale zu begeistern.

Der kleine, mit Knuddelnase gezeichnete Riad blickt unvoreingenommen und staunend auf die Erwachsenenwelt. Er liebt seinen Vater und isst gerne Maulbeeren mit ihm. So, wie Riad Sattouf sich selbst darstellt, wird allerdings auch klar, dass der Junge mehr begreift als sein Erzeuger. Der blonde Riad erkennt, dass sich hinter der Fassade aus Polit-Propaganda Armut und Chaos ausbreiten. Er leidet mit seiner Mutter, mit allen Außenseitern - und man spürt, wie er zunehmend an seinem Vater zweifelt. Ob er ihm widersprechen wird, bleibt zunächst offen. Die Handlung der bunten Graphic Novel endet 1984, und der anschließende zweite Teil erscheint demnächst erst in Frankreich.

Riad Sattouf, der zehn Jahre lang auch für das Satiremagazin Charlie Hebdo arbeitete, ist ein brillanter Zeichner und Erzähler. Ihm gelingt das große Kunststück, gleichzeitig komisch, liebevoll, scharfsinnig und politisch zu sein. Der Araber von morgen wurde mit dem wichtigsten europäischen Comicpreis "Fauve d'or" des Festivals von Angoulême ausgezeichnet. Zu Recht! Günter Keil

KNAUS VERLAG, ÜBERSETZT VON ANDREAS PLATTHAUS, 160 S., 19,99 €


Cristina Moracho: Zwillingssterne - Althea und Oliver, erst Nachbarn, dann beste Freunde, schließlich unzertrennlich wie Geschwister. Doch wie das mit dem Erwachsenwerden ist, bleibt nicht alles so unkompliziert: Althea muss sich eingestehen, dass sie sich in Oliver verliebt hat, doch bevor sich die beiden über ihre Lage klar werden können, verfällt Oliver einer mysteriösen Krankheit. Er beginnt, völlig unvorhersehbar, in wochenlang andauernde Schlafphasen zu fallen. Nun muss sich Althea von ihrer zweiten Hälfte trennen, feststellen, dass es auch ein Leben ohne ihn geben muss, geben kann. Trotz ihrer impulsiven, verschlossenen und für andere nicht leicht zu entschlüsselnden Art, findet sie bald zu sich, stellt fest, dass sie auch ohne Oliver ein liebenswerter Mensch ist und nicht allein zu sein braucht. Eine berührende, fröhliche und gleichzeitig traurige Geschichte über das Erwachsenwerden, über Selbstliebe und die Anstrengung, die es kostet, denjenigen, den man liebt, gehen zu lassen. Auf feinfühlige und dennoch komische Art gelingt es der New Yorker Autorin in ihrem Debüt, die verstrickten Gedankenwelten ihrer Hauptcharaktere so in Worte zu fassen, dass man sich ihren Emotionen kaum entziehen kann und wahrhaftig selbst an diesem Buch zu wachsen scheint. Feline Mansch

JUGENDBUCH, KÖNIGSKINDER/CARLSEN VERLAG 2014, AUS DEM AMERIKANISCHEN VON ANNETTE VON DER WEPPEN, 432 S., 18,90 €


Ella Dälken: Nur fünf Tage - Bankierstochter Charlotte ist verschwunden. Doch ihr Vater will von einer Entführung nichts wissen, da kein Lösegeld gefordert wird. Selbst als ihn verstörende Videos erreichen, die zeigen, wie seine Tochter gefoltert wird, ist er überzeugt: Da will jemand den Preis hochtreiben. Doch Kommissar Redding und seine Kollegin Brandis sind sich sicher: Hier scheidet Geld als Motiv aus. Sie ahnen, dass der Täter Rache will, und sie nehmen seine Drohung, Charlotte am fünften Tag zu töten, ernst. Ella Dälken präsentiert in ihrem Debütroman ein Kaleidoskop an Figuren, das vom bis zur Selbstaufgabe loyalen Personal bis zur schillernden Boutiquebesitzerin reicht. Verdächtig macht sich nicht nur der von Charlottes Vater betrogene und ausgebootete Erbe der Privatbank, auch der dubiose Verlobte von Charlotte scheint ein Motiv zu haben, genauso wie ein zurückgewiesener Verehrer. Dälken, die als Öffentlichkeitsreferentin für Migration und Qualifizierung beim DGB arbeitet, lässt keine ihrer Fährten im Sande verlaufen. Spätestens beim großen Showdown zeigt sich, wie fein sie ihr Netz gewebt hat. Nur fünf Tage ist ein spannender Thriller mit einem Schuss Gesellschaftskritik am Bankensystem und seinen Protagonisten. Martina Schneiders

SIEBEN VERLAG REINHEIM 2014, 234 S., 12,90 €


Olaf Schwarzbach: Forelle Grau - Die Geschichte von Ol - Ol ist vor allem vielen Berlinern bekannt als der Comiczeichner Ol. Seine Mütter vom Kollwitzplatz haben aber auch überregional Berühmtheit erlangt und den publik-Leser/innen ist er auch kein Unbekannter. In Forelle Grau hat Ol, geboren 1965 in Ost-Berlin, seine Geschichte aufgeschrieben - wer nun ein witziges Buch erwartet, wird überrascht. Erstaunlich offen erzählt Ol vom Suizid seiner Mutter, seinen eigenen Suizidversuchen, der Bespitzelung durch die Stasi und schließlich der Flucht in den Westen, wohin er doch eigentlich nie wollte. Aber er beschreibt auch eine behütete, entspannte Kindheit mit endlos viel Zeit vor dem Fernseher, dem besten Eis in Potsdam, mit Freunden, Sport (Tennis!) und Spiel. Später dann die nicht mehr ganz so entspannte Jugend: trampen, die erste eigene Wohnung, arbeiten und saufen ohne Ende. Ärger mit den "Staatsorganen". Die Parallelgesellschaft, die es in der DDR gab, wo viele ihre persönliche Nische fanden und wo es dennoch viele nicht mehr aushielten und in den Westen gingen. Spannend erzählt! Andrea Beu

BERLIN VERLAG 2015 , 320 S., 19,99 €