Ausgabe 04/2015
Der rote Faden bleibt verborgen
Ulf G. Stuberger ist Journalist und Korrespondent bei den Obergerichten in Karlsruhe
"Verschwörungstheorien blühen immer dann, wenn der demokratische Prozess nicht transparent ist." Zu diesem Schluss kommt der Soziologieprofessor Hans Jürgen Krysmanski aus Münster, eine international geachtete Koryphäe auf diesem Gebiet.
Was hierzulande meist Rechtsextremismus genannt wird, steht in einem historischen Kontext. Ob man es will oder nicht: Es war und ist Rassismus mit seinen vielfältigen Fratzen. Er kommt eher schleichend daher, ist alltäglich, zum Teil in bürgerliche Gewänder gekleidet. Zu wenige Juristen kümmern sich darum, trotz der Mahnungen selbst der Vereinten Nationen. So konnte er sich zum lautstarken Terror entwickeln - nicht erst seit dem Attentat auf das Oktoberfest 1980. Auch Robenträger können ihn nicht mehr vertuschen. Aber es setzen in politischen Kreisen und jenen der Strafverfolger offensichtlich regelmäßig Pawlowsche Reflexe ein, wenn neue rassistische Schwerverbrechen ruchbar geworden sind: Rasch nach der Aufnahme von Ermittlungen schreit es lauthals: "Einzeltäter!" Das anschließende Auftreten von Politik und Ermittlungsbehörden und die Berichterstattung der meisten Medien folgen, bewusst oder unbewusst, dem Ziel, der Gerichtsbarkeit möglichst keine Chance zu lassen, den roten Faden aufzurollen, die Ursachen ans Tageslicht zu bringen. Vertuschung, Verniedlichung, Verharmlosung statt Transparenz sind dabei gewohnheitsmäßige Mechanismen.
Für die Anklage von Verbrechen ist der Generalbundesanwalt dann zuständig, wenn eine terroristische Vereinigung besteht, aus der heraus Taten begangen wurden. Dazu müssen mindestens drei Personen als Mitglieder nachweisbar sein. Dieser Strafverfolger ist nicht unabhängig, sondern ein politischer Beamter, dem die Bundesregierung Weisungen erteilen kann; er ist also nur juristischer Vollstrecker jeweils gewünschter Politik. Die Regierenden haben meistens kein Interesse an Transparenz, wenn es um politisch motivierte Taten geht. Oktoberfest: "Einzeltäter"; zehn Jahre Morde durch den NSU: (kleine) "Zelle". Hinterleute auch dieser amtlich mit nur drei Mitgliedern gekennzeichneten Terrorbande sollen unbekannt bleiben. Zwei Mitglieder sind tot. Das macht eine Personalisierung auf die eine noch lebende Angeklagte möglich - ein weiteres Instrument zur Verharmlosung. Zu schwer wiegt offenbar die Gefahr, dass ein roter Faden bis in amtierende Kreise führt. Man nennt diese Intransparenz: Vertuschung der Ursachen auch des neuen deutschen Rassismus in seiner gewalttätigsten Erscheinung.
Das Eingangszitat verdeutlicht, warum es nicht nur "im Netz" immer mehr verschrobene Theorien über Ursache und Wirkung des neuen deutschen rassistischen Terrorismus gibt, bis hin zur Verbreitung des Allgemeinplatzes, die USA und ihre Geheimdienste seien in Wahrheit Auftraggeber nicht nur der Morde, die dem NSU zugeschrieben werden; oder der russische Geheimdienst oder geheimnisvolle Mächte um die frühere "Stay-Behind"-Organisation "Gladio"... Der Staat macht es leicht, den Verbreitern dieser und vieler anderer obskurer Theorien einfach. Akten werden von deutschen Geheimdiensten geschreddert, eingeschleuste Agenten gedeckt und sogar vor Befragungen der Justiz und in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen bewahrt. Viel mehr noch wird dafür getan, Hintergründe, Ursachen, Zusammenhänge und die Netzwerke nicht aufzudecken, aus denen heraus solche Verbrechen begangen wurden. Der Gerichtsbarkeit bleiben dann im Strafverfahren keine Mittel mehr, das zu leisten, was oft zu Unrecht von ihr erwartet wird. Denn dort geht es nicht um die politischen Hintergründe und Ursachen, sondern nur noch um diejenigen Menschen, die angeklagt sind. Die Hintermänner bleiben im Dunkeln. Wenn dann auch noch Zeugen unter ominösen Umständen sterben, umso besser für die Politik. Nicht jeder Senatsvorsitzende ist ein Hermann Wieland, der im Prozess gegen die ehemalige RAF-Terroristin Verena Becker sogar damit gedroht hat, eine Entscheidung der gesamten Bundesregierung über die Herausgabe von Geheimakten qua Gerichtsbeschluss zu erzwingen. Anhand dieser Akten hätte aufgeklärt werden können, auf welche Art und Weise die schmächtige Frau, auch im Rentenalter noch zwiespältig-schweigend, für einen deutschen Geheimdienst tätig war oder etwa noch ist.
Professor Krysmanskis Worte müssen allen deutschen Juristen und Politikern, die sich mit dem erstarkenden Rassismus in Deutschland befassen sollten, täglich in den Ohren klingen: "Verschwörungstheorien entstehen dann, wenn die Demokratie versagt." Für die daraus erwachsenden Folgen sind sie ebenso verantwortlich wie die Mörder und anderen Verbrecher. "Wehret den Anfängen" ist keine veraltete Floskel, sondern Auftrag für Politik, Strafverfolgung und Gerichtsbarkeit, der wieder einmal sträflich vernachlässigt wird in Deutschland.
Akten werden von Geheimdiensten geschreddert, Agenten gedeckt und vor Befragungen der Justiz und in Untersuchungsausschüssen bewahrt