"Da hat's mich zsamghaut!"

Dieter Mehling war in diesem Jahr viel an der frischen Luft - wegen der Kündigung. Er war allein, wollte sich ablenken

Sommerach ist ein Dorf wie aus dem Bilderbuch: Barocke Fassaden, fränkische Gasthäuser und ein Kirchturm, der alles überragt. Gäste kommen hierher, um durchs Naturschutzgebiet zu spazieren, Silvaner im Bocksbeutel zu trinken und sich in vergangene Zeiten hineinzuträumen. Auch Dieter Mehling, 57, war in diesem Frühling viel an der Luft. Er ging die Rebberge hinauf, zum Aussichtsturm, und sah über die Dächer hinüber zum Steigerwald. Er war allein, er wollte sich ablenken, er hatte Zeit. Der Himmel ist groß über der Maininsel, man kann hier heiter sein und froh. Aber wer ist schon heiter, wenn die Kündigung auf dem Tisch liegt?

Vorgesetzte gingen, Mehling blieb

Seit 42 Jahren ist Dieter Mehling im selben Haus beschäftigt, das sich heute Mediengruppe Mainpost nennt. Als er noch in der Lehre war, hat er mit Bleisatz gearbeitet und mit Winkelhaken Buchstaben "genagelt". Dann kamen Photosatz und Klebeumbruch, später Computer und die Text- und Bildbearbeitung am PC. Mehling machte mal Zeitschriften, mal Sonderseiten in Zeitungen. Inzwischen setzt er Anzeigen, neuerdings auch die Totentafel. Aber heute nennt man ihn nicht mehr Setzer, sondern Mediengestalter. Dieter Mehling hat all die technischen Veränderungen mitgemacht, Altes über Bord geworfen, Neues dazugelernt. Er hat Abteilungen gewechselt, Vorgesetzte kamen und gingen, die Firma wurde mehrmals verkauft. Aber Mehling blieb. Pendelte von Sommerach nach Würzburg. Arbeitete in Schichten, Früh-, Mittel- und Spätschicht, auch an Sonn- und Feiertagen.

Zuhause hatte er es nicht leicht. Jahrelang lebte er an der Seite seiner suchtkranken Frau. Er selbst erlitt vor zwölf Jahren einen Herzinfarkt. Hatte mehrere Bandscheibenvorfälle. Aber meistens ging er gern zur Arbeit. Die Stimmung war gut in seinem Stockwerk. Ein sehr schönes Arbeitsklima sei das früher gewesen, sagt ein Kollege Mehlings, der nicht namentlich genannt werden will. Wer weiß schon, wie man in Zukunft sonst mit einem umspringt. Es herrsche ein "Klima der Angst". Das sei seit Jahren so. Die Kündigung Dieter Mehlings habe die Stimmung allerdings weiter verschlechtert.

Es geschah ganz plötzlich. "An Dreikönig hab ich noch ganz normal gearbeitet", sagt Dieter Mehling. Tags darauf bekam er die Arbeitszeitänderung auf den Tisch. Von 9 Uhr 30 bis 18 Uhr solle er künftig arbeiten, die Mittelschicht.

Die Katastrophe

Was harmlos klingt, war für Mehling eine kleine Katastrophe. Über 35 Jahre lang hatte er sich an seine drei verschiedenen Schichten gewöhnt. Sie strukturierten seinen Alltag. Dennoch überlegte er, zuzustimmen - bis er erfuhr, dass man ihm auch die Sonn- und Feiertagsarbeit streichen werde. Er weigerte sich, denn seine Existenz stand auf dem Spiel. "Fast ein Drittel seines Einkommens hätte Dieter Mehling gefehlt, wäre er auf den Vorschlag seiner Vorgesetzten eingegangen", sagt sein ver.di-Betreuungssekretär Bernd Bauer.

Denn Mehling gehört zu den wenigen Mitarbeitern, die an Sonn- und Feiertagen noch 125 Euro Antrittsgebühren bekommen sowie 175 Prozent Zuschläge auf den Stundenlohn. Früher war die Firma an Tarife gebunden, es gab einen Mantelvertrag. Dann stieg der Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband aus. Seit 2009 schließe der, sagt Bauer, mit neuen Mitarbeitern nur noch Einzelverträge ab. "Ein Großteil auch der Altangestellten hat diese neuen Arbeitsverträge unterschrieben", sagt Bernd Bauer, "Dieter Mehling nicht." Mehling, sagt er, "zeigte Rückgrat", zusammen mit einigen älteren Kollegen, die sich nicht bange machen ließen. 35-Stunden-Woche, die tariflich geregelten Zuschläge: Für ihn gilt noch, was für andere nie Wirklichkeit war - oder längst passé ist. Darum ist er sehr viel teurer als seine jüngeren Kollegen. Anders als diese hat sich Mehling "zigmal" an Streiks beteiligt und immer für seine Sachen gekämpft. "Das Falsche, das Unehrliche geht mir auf den Wecker!"

Die Ankündigung, die Arbeitszeiten zu ändern, war wohl schon, meint Bernd Bauer, "eine Vorbereitung der Kündigung". Tatsächlich erhielt Mehling die Kündigung kurz darauf. Argumentiert wurde mit der hohen Anzahl von Fehltagen in den vergangenen drei Jahren. Und es stimmt: Mehling war seit dem Tod seiner Frau vier Jahre zuvor häufig krank gewesen. Er sagt selbst: "Es ging mir gar nicht gut." Das Herz. Der hohe Blutdruck. Die Depressionen.

Allerdings hatte er sich, wie er sagt, zum Zeitpunkt der Kündigung längst berappelt. Sein Blutdruck war an Weihnachten neu eingestellt worden. Seine Psychiaterin behandelte ihn bereits seit längerer Zeit erfolgreich mit Antidepressiva und Psychotherapie. Mehling hatte das deutliche Gefühl, über den Berg zu sein. Aber als er die Kündigung mit Siebenmonatsfrist bekam, sagt er: "Da hat ́s mich zsamghaut!"

Da ist die Wut

Dreieinhalb Wochen war er daraufhin krank geschrieben. "Ich dachte immerzu daran. Da ist die Wut, totale Wut! Ich hab mir doch nichts zuschulde kommen lassen. Ich seh keinen Grund, meine Arbeit zu verlieren." Auch sein Kollege sagt: "Wir wissen nicht, was wirklich hinter der Kündigung steckt." Noch im Frühling habe ihn doch der Chef gelobt: Er sei fleißig, könne so viel und sei ein guter Mitarbeiter. Und jetzt?

Laut Bernd Bauer entspricht das Verhalten des Arbeitsgebers einer allgemeinen Entwicklung: "Krankheitsbedingte Kündigungen nehmen zu, Krankschreibungen werden immer wieder vom Arbeitgeber zurückgewiesen. Sogar Ärzte werden angezweifelt." Er sagt: "Die Kündigung war ein Signal an alle Kollegen. Sie sollten sehen, dass es niemanden schützt, jahrzehntelang im Betrieb gearbeitet zu haben." Lohnfortzahlungskosten in Höhe von 30.000 Euro führte der Betrieb ins Feld. Bauer findet: Eine so große Firma könne das sehr wohl verkraften. Die Produktion sei darum bestimmt nicht gefährdet.

Auf Nachfrage zum Fall Mehling beruft sich die Geschäftsleitung der Mediengruppe Main-Post auf den Datenschutz, stellt aber allgemein zum Umgang mit erkrankten Mitarbeitern fest: "Zunächst einmal bieten wir immer die Hilfe durch unseren betriebsärztlichen Dienst an. Dieser beurteilt die gesundheitliche Situation und die Möglichkeiten, die uns als Arbeitgeber zur Verfügung stehen, um spezifische Entlastungen vorzunehmen. Hieraus erhalten wir dann Empfehlungen, was wir im Rahmen unserer Fürsorgepflicht beitragen können, um die gesundheitliche Situation betroffener Mitarbeiter zu verbessern."

Mehling allerdings sagt, er sei von der Betriebsärztin nie umfassend untersucht worden. Auch seine Rechtssekretärin bei ver.di, Vanessa Mahler, sagt, die Expertise der Betriebsärztin beschränke sich auf "zwei bis drei Textzeilen". Von Vanessa Mahler wurde Mehling im Kündigungsschutzverfahren unterstützt.

Denn natürlich hat Mehling die Kündigung nicht einfach hingenommen. Er hat sich weiter zur Arbeit geschleppt. Und er hat gekämpft. Ausschlaggebend für das Verfahren war letztlich Mehlings Behindertenstatus. Das Versorgungsamt bezifferte diesen auf 60 Prozent. Rückwirkend. Damit wurde die Kündigung Mitte September vom zuständigen Gericht für ungültig erklärt. Denn Schwerbehinderten darf nicht ohne Zustimmung des Versorgungsamtes gekündigt werden.

Kein Grund zu feiern

Mehling freut sich über das Urteil - zumindest ein wenig. Einen Grund zu feiern, sieht er nicht. Er rechnet damit, dass der Betrieb auch künftig versuchen wird, ihn rauszuwerfen.

Die Argumentation des Betriebes, der einmal seiner war, ist tatsächlich abenteuerlich: "In extrem seltenen Fällen", so die Geschäftsleitung der Main-Post in ihrer Stellungnahme, "kann es geboten sein, mit einer personenbedingten Kündigung als Ultima Ratio im Sinne des erkrankten Mitarbeiters zu arbeiten. Hier sind Suchtthemen oder nicht zu überwindende Uneinsichtigkeit bezüglich der eigenen Situation als Beispiele zu benennen. Auch hier handeln wir immer im Einklang mit medizinischen Empfehlungen, die die Unterbrechung eines sogenannten Teufelskreises zum Ziel haben."

Die Wirklichkeit sieht allerdings ganz anders aus. "Eine Kündigung zieht einem den Boden unter den Füßen weg", sagt Bernd Bauer. Was angeblich im Sinn des erkrankten Mitarbeiters sein soll, hat Mehling, der gerade genesen zu sein schien, für Wochen zurück in die Verzweiflung getrieben.

Mehlings Kollege sagt: "Dass dieser Arbeitgeber sich seiner sozialen Verantwortung stellt, das hat es schon lange nicht mehr gegeben."