Henrik Müller war bis 30. September 2015 Redakteur bei ver.di publik

Seit den ersten kalten Nächten Ende September zeigt sich auch das heurige Sommermärchen vor herbstlicher Kulisse - das Märchen vom guten Deutschland, das sich Millionen Flüchtlingen aus vielen Kriegs- und Elendsgebieten dieser Welt öffnet und ihnen Asyl bietet, es ist wohl bald aus. Nach erstaunlich großzügigen Willkommensbekundungen von Kanzlerin und Vizekanzler ("Wir schaffen das") tritt die Bundesregierung jetzt wieder kräftig auf die Bremse: Verdoppelung der Aufenthaltsdauer in engen Erstaufnahmelagern mit acht Duschen für 2.000 Menschen, nur noch Sachleistungen statt Geld, scharfe Restriktionen gegen Schutzsuchende vom Balkan und weitere Verschärfungen des Asylrechts sollen nun im Schweinsgalopp durch das Gesetzgebungsverfahren gepeitscht werden. Andere fordern gar "Schnellverfahren" in Sonderlagern gleich an der Grenze. Willkommenskultur wäre etwas anderes.

So hektisch, wie es nun zu Ende gebracht wird, so chaotisch hatte das "Märchen" begonnen. Bei der hohen Politik und den führenden Medien war das Thema im Sommer erst reichlich spät als bedeutendster gesellschaftlicher Umbruch seit dem Fall der Berliner Mauer angekommen. Zum Beispiel unsere Kanzlerin und die Bild-"Zeitung" hatten lange Zeit prüfend die Finger in den Wind gehalten, um herauszufinden, woher der Wind weht hinsichtlich der Stimmung der Bevölkerung. Allmählich war klargeworden, dass diejenigen, die sich für "das Volk" halten, deutlich in der Minderheit waren (und sind). Die Zivilgesellschaft war in Vorleistung gegangen und hatte - allen Drohungen und Bedrohungen aus der rechten Ecke zum Trotz - die Sache in die Hand genommen mit vielfältigen Willkommensbekundungen und hunderttausendfacher praktischer Hilfe. Erst als das augenfällig war, ging die Kanzlerin nach Heidenau und stellte sich dem Fremdenhass entgegen. Und plötzlich kommandierte gar die Bild: "Flüchtlingen helfen!"

Zu dieser Zivilgesellschaft, die sich in erster Linie humanistischen und humanitären Zielen verpflichtet sieht, gehören nicht zuletzt die Gewerkschaften, ihre Mitglieder in den Betrieben und Verwaltungen sowie deren Interessenvertretungen. Auch und gerade sie stehen durch die forcierte Zuwanderung von Menschen nach Europa im Allgemeinen und nach Deutschland im Besonderen vor neuen, ungeahnten Herausforderungen. Der ver.di-Bundeskongress forderte Ende September in Leipzig, dem Fremdenhass entgegenzutreten, die Willkommenskultur zu stärken und die Willkommensstrukturen auszubauen. Die Delegierten stellten aber auch fest, dass sich die Kommunen und die Erstaufnahmeeinrichtungen in der Flüchtlingshilfe zunehmend an der Grenze ihrer Belastbarkeit bewegen - Symptom einer schleichenden Aushöhlung der öffentlichen Daseinsvorsorge und der freien Wohlfahrtspflege seit Jahren.

Die Arbeitgeber der privaten Wirtschaft wünschen sich Lockerungen im Asylrecht, um geflüchtete Menschen möglichst schnell in die Berufswelt zu integrieren. Man brauche, so BDA-Präsident Ingo Kramer noch Anfang September, "in den nächsten zwanzig Jahren viel mehr Arbeitskräfte, als dieses Land hervorbringen" werde. Welche Katze damit gemeint ist, ließ Ende des Monats auch der CDU- Wirtschaftsrat aus dem Sack: Der gesetzliche Mindestlohn soll für Asylbewerber und Geduldete nicht gelten, fordert er, und die Tarifparteien sollen bitte "nun rasch reduzierte Einstiegslöhne für Flüchtlinge zulassen". Und wenn die Gewerkschaften da nicht mitmachen? Damit würde sich zeigen, dass sie es mit ihren Willkommenserklärungen nicht ernst meinen. So einfach ist das für die Arbeit- geber. Dabei gibt es keine Begründung dafür, Flüchtlinge mit Dumpinglöhnen abzuspeisen - außer, man möchte abermals die Arbeitskosten drücken.

Wir müssen aber dafür sorgen, dass die Menschen, die bereits hier leben, genauso wie die Menschen, die jetzt zu uns kommen, mit allem ausreichend ausgestattet, unterstützt und versorgt werden können. Wir müssen dafür sorgen, dass die öffentlichen Dienste und die Wohlfahrtspflege und andere Bereiche so ausgestattet werden, dass nicht die einen gegen die anderen ausgespielt werden: So hat die Delegierte Katharina Lang beim ver.di-Bundeskongress in Leipzig die Herausforderungen zusammengefasst, vor denen ver.di und die anderen Gewerkschaften stehen. Eine gewaltige Aufgabe, aber die bevorstehende kalte Jahreszeit darf nicht zum Hungerwinter werden. Und unsere Kolleginnen und Kollegen aus Afghanistan, Eritrea und Syrien dürfen sich in Deutschland nicht auch noch Frostbeulen holen.

Symptome einer schleichenden Aushöhlung der öffentlichen Daseinsvorsorge und der freien Wohlfahrtspflege seit Jahren