Ausgabe 06/2015
Es hat noch nie gereicht
Die Akten stapeln sich in Postkisten und auf Tischen, vor dem Amt werden die Flüchtlinge nicht weniger
Wenn Björn Schimming morgens um kurz nach 7 Uhr zur Arbeit kommt, ist der Platz vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin-Moabit schon gefüllt mit Wartenden. Die letzten Meter schiebt er sein Rad durch die Menge. Die Menschen, die dort stehen, sind aus vielen verschiedenen Ländern nach Deutschland geflüchtet. Sie wollen sich in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZAA) registrieren lassen, hoffen, nach Verfolgung und langer Flucht eine neue Heimat zu finden - warten darauf, dass sich Mitarbeiter wie Björn Schimming an diesem Tag um ihre Anliegen kümmern. Allerdings weiß Björn Schimming schon jetzt genau, dass er und seine Kolleg/innen das auch heute wieder nur für einen kleinen Teil der Geflüchteten werden tun können - egal wie viele Überstunden sie machen.
Nach Angaben des Berliner Senats sind in diesem Jahr bis Mitte September 23.100 Flüchtlinge in Berlin registriert worden. Mehr als die Hälfte von ihnen ist erst in den vergangenen Wochen in der Hauptstadt eingetroffen. Doch schon seit Jahren warnt der Personalrat vor den Folgen des Personalmangels in der Behörde. Dabei habe die Politik durchaus reagiert, sagt die Personalratsvorsitzende Astrid Weigert, aber: "Wir hoppeln immer hinterher. Es ist mehr Personal gekommen, aber angesichts der immer weiter steigenden Zahlen von Flüchtlingen hat es nie gereicht." Gerade erst wurden rund 180 Kolleg/innen aus anderen Berliner Verwaltungen im Asylbereich angefordert. Doch wer soll sie einarbeiten?
So wie in Berlin sieht es allenthalben in den Erstaufnahmestellen aus. Christian Martens, der Vertrauensleutesprecher des Einwohnerzentralamts in Hamburg, erzählt von Kolleg/innen, die unzufrieden sind, weil sie sich alleine gelassen fühlen, ihre Arbeit nicht schaffen können und sich angesichts der immer größer werdenden Zahl Hilfesuchender schlicht überfordert fühlen.
In Hessen hat ver.di-Sekretär Peter Wadakur vom Bezirk Mittelhessen bereits Ende Juli einen Brandbrief zur Situation in der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen veröffentlicht. Darin wies er auf Raumnot, Dauerüberstunden und die hohe psychische Belastung der Beschäftigten hin, mahnte angesichts der Prognose von 9.000 allein in diesem Jahr in Hessen erwarteten Flüchtlingen mehr Personal und mehr Mittel an. Mittlerweile sollen es 17.000 werden. Hinzu kommen die Probleme eines Flächenstaats. Längst können nicht mehr alle, die in der Erstaufnahme sind, in Gießen und der näheren Umgebung untergebracht werden. Das führt dazu, dass sie mit Bussen immer wieder zu ihren Terminen kreuz und quer durch das Land gefahren werden müssen. Ein zusätzlicher logistischer Aufwand, belastend für alle Beteiligten.
"Jetzt rächt sich der enorme Personalabbau der letzten Jahre, es fehlt Personal in allen Bereichen", heißt es in einem Positionspapier des ver.di-Bundesfachbereichsvorstands Gemeinden. Dabei hätte der öffentliche Dienst ideale Voraussetzungen, solch komplexe Hilfesituationen mit seinem breit angelegten Spektrum unterschiedlicher Berufsgruppen zu bewältigen. Aber die Sparpolitik der vergangenen Jahre hat die Möglichkeiten der Daseinsvorsorge stark beschnitten.
Zeit verstreicht
Durch den hohen persönlichen Einsatz der im öffentlichen Dienst Tätigen und mit der Hilfe Freiwilliger war es bislang möglich, halbwegs erträgliche Zustände in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu schaffen. Doch auch der Einsatz Freiwilliger geht oft weit über ein Ehrenamt hinaus. Mit Hilfe von Beschäftigten in der Flüchtlingshilfe und Spenden können die nach Deutschland Geflohenen versorgt und untergebracht werden. Aber die Probleme werden sich fortsetzen, warnt die Berliner Personalrätin Astrid Weigert. Die Asylanträge müssen bearbeitet werden, es geht um Betreuung, Sprachkurse, die Suche nach Arbeits- und Ausbildungsplätzen, um Kita- und Schulplätze und vieles mehr. Deswegen versucht sie, die betroffenen Bereiche zu vernetzen, Öffentlichkeit zu schaffen, damit nicht wieder zu viel wertvolle Zeit verstreicht.
"Arbeitsschutz und gute Arbeit sind hier im Moment Fremdwörter", sagt Astrid Weigert angesichts der chaotischen Zustände in der Behörde. Vor diesem Hintergrund sei der Krankenstand mit 13 Prozent recht gering. Aber das sei eher dem Wunsch der Beschäftigten geschuldet, zu helfen und den anderen Kolleg/innen durch Ausfall nicht noch mehr Arbeit zuzumuten. Wenn Björn Schimming von seiner Arbeit erzählt, wird auch die Hilflosigkeit der Politik deutlich. Ständig werden die Abläufe geändert, mal werden mobile Teams in einzelne Unterkünfte geschickt, mal wird eine zentrale Registrierung getestet, in der alle Schritte zur Erstaufnahme erledigt werden können.
Wer aber die Akten sieht, die sich in gelben Postkisten in Björn Schimmings und anderen Büros stapeln, dem kommen Zweifel. Kaum etwas wird zentral elektronisch erfasst, alle Akten werden von einer Station zur nächsten getragen, müssen immer wieder von den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern gesucht werden. Das verzögert die Abläufe, häufig müssen sie die Termine, die die Geflüchteten bei ihnen haben, verschieben. Das führt dann womöglich zu Unruhe im Hof, der Lärm schallt hoch in die Büros und erschwert die Arbeit zusätzlich.
Ans Telefon schaffen es Björn Schimming und seine Kolleg/innen nur noch selten, auch für das Erledigen der täglichen Post reicht die Zeit nicht mehr. Als die Politik entschieden hat, die Öffnungszeiten der Erstaufnahme täglich um vier Stunden zu verlängern, kam es zu versetzten Arbeitszeiten - aber die dafür notwendigen Beschäftigten konnten nicht eingestellt werden. Obwohl die Politik durchaus bereit ist, für mehr Personal zu sorgen, fehlt es an geeigneten Kräften. "Selbst wenn ab morgen kein neuer Flüchtling mehr nach Berlin käme, hätten wir noch eineinhalb Jahre zu tun, um alles nachzuarbeiten", sagt der Betriebsgruppenvorsitzende Wolf Kopp.
Unversorgte Fälle
Wie motiviert man sich da, jeden Morgen zur Arbeit zu gehen? Björn Schimming zuckt mit den Achseln. Arbeitsdisziplin sagt er. Und ergänzt: "Man stumpft ab." Er versuche, die Schicksale, die täglich auf ihn einprasseln, nicht an sich heranzulassen, hält sich eng an die Vorgaben, die er zu erledigen hat. Nach Hause nehme er die Arbeit auch in Gedanken längst nicht mehr mit, er verschafft sich - mal mehr, mal weniger - bei Familie, Freunden und dem Hobby einen Ausgleich.
Als Björn Schimming um 17 Uhr Feierabend machen will, trifft er auf eine aufgebrachte Kollegin. Der Wartebereich auf dem Flur ist noch voll, aber die zentrale Sozialhilfe-Software Berlins wurde vor einer Stunde heruntergefahren, wie jeden Mittwoch, wegen Wartungsarbeiten. Zwei andere Kolleginnen kommen hinzu, mit Stapeln von Akten im Arm: ihre unversorgten Fälle von heute. "Was sollen wir tun?" Zwei von ihnen fahren in die oberste Etage, hoffen, dass dort jemand eine Entscheidung treffen kann. Schimming geht runter, verlässt das Amt. Wieder muss er sein Fahrrad durch den Hof schieben. Immer noch warten hier zahlreiche Menschen, die hoffen, dass ihnen vielleicht doch noch heute geholfen wird.