Die Kosten der "Schwarzen Null"

Dierk Hirschel leitet bei ver.di den Bereich Wirtschaftspolitik

60 Millionen Menschen fliehen weltweit vor Krieg, Armut und Verfolgung. Eine Million Flüchtlinge suchen dieses Jahr Schutz in Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, sagte: "Wir schaffen das." Und fügte erst kürzlich hinzu, dass das auch mit der "Schwarzen Null", also ohne neue Staatsschulden zu schaffen sei.

Ob die Integration der Zuwanderer gelingt, entscheidet sich vor Ort. In den Städten und Gemeinden werden die Flüchtlinge untergebracht und versorgt. Die steigende Zahl an Flüchtlingen konnte in den letzten Monaten nur durch den unermüdlichen Einsatz der öffentlich Beschäftigten und ehrenamtlicher Helfer bewältigt werden. Dieser Ausnahmezustand muss bald beendet werden. Die Flüchtlingshilfe braucht mehr Geld und Personal für Unterkünfte, Verpflegung, Gesundheit, psychosoziale Betreuung und Integration. Vielen Kommunen steht aber das Wasser längst bis zum Hals. Sie sind kaum mehr handlungsfähig und chronisch unterfinanziert.

In den Verwaltungen fehlt Personal. In den Schulen bröckelt der Putz von der Wand. Jugendclubs und Sportanlagen werden geschlossen, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Die Republik fährt seit über einem Jahrzehnt auf Verschleiß. Unternehmen und Staat investieren zu wenig. Die staatlichen Nettoinvestitionen - Bruttoinvestitionen abzüglich Abschreibungen - sind seit 2003 im roten Bereich. Besonders dramatisch schrumpfen die kommunalen Investitionen.

Die Not der Städte und Gemeinden ist politisch gemacht. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, CDU, führt den deutschen Staatshaushalt wie den Privathaushalt einer schwäbischen Hausfrau. Sein großes Prestigeprojekt ist die "Schwarze Null". Deswegen sollen Bund, Länder und Gemeinden nicht mehr Geld ausgeben, als sie einnehmen. Stabilitätspakt und Schuldenbremsen zwingen die Kassenwarte, am Sparkurs festzuhalten. Für zusätzliche Investitionen bleibt nichts mehr übrig. Der Finanzminister knausert auf Kosten der nächsten Generation. Er hinterlässt den Kindern und Enkelkindern marode Straßen, Schulen und Krankenhäuser. Und das in Zeiten, in denen Kredite faktisch für umsonst zu haben sind.

Wer Schulden als Teufelszeug bekämpft, hat nicht verstanden, wie der moderne Kapitalismus funktioniert. Unser Wirtschaftssystem ist eine Geld- und Kreditwirtschaft. Ohne Schulden gibt es kein Vermögen. Ohne Defizite gibt es keine Überschüsse. Ein Staat, der auf Pump investiert, kurbelt die Wirtschaft an. Die Alternative zur Kreditkarte sind höhere Reichensteuern. In der großen Koalition gibt es aber keine Mehrheit für eine andere Steuerpolitik. Merkel, Schäuble und CSU-Chef Horst Seehofer haben Steuererhöhungen kategorisch ausgeschlossen. So hat sich die große Koalition finanzpolitisch selbst gefesselt. Jetzt sollen die fehlenden Investitionsmittel beschafft werden, indem privates Kapital eingeworben wird. Private Investoren stecken ihr Geld aber nur dann in Kitas, Schulen und Krankenhäuser, wenn die Rendite stimmt. Folglich ist die Verschwendung von Steuergeldern programmiert.

Die sogenannte Flüchtlingskrise legt dieses andauernde Politikversagen schonungslos offen. Noch sorgen Haushaltsüberschüsse dafür, dass Schäuble mehr Geld für die Flüchtlingshilfe spendiert. Die genehmigten Ausgaben decken aber nicht die Bedarfe. Dabei wird jeder Euro, der jetzt investiert wird, sich künftig mehrfach auszahlen. Die milliardenschwere Flüchtlingshilfe kurbelt die Wirtschaft an. Die Ausgaben für Flüchtlinge sind gleichzeitig Einnahmen für den Einzelhandel, das Handwerk, die Gastronomie und die Bauwirtschaft. Das ist gut für Wachstum und Beschäftigung.

Viele Zuwanderer wollen und können in Deutschland arbeiten. Die Nürnberger Bundesagentur rechnet für nächstes Jahr bei einer Million Flüchtlinge mit zusätzlichen 340.000 Arbeitssuchenden. Im Jahr 2017 könnten weitere 610.000 hinzukommen. Die erwerbsfähigen Zuwanderer gilt es, schnell in Arbeit zu bringen. Dafür müssen sie die deutsche Sprache erlernen und im Bedarfsfall ausgebildet sowie weiterqualifiziert werden. Deswegen sollten jetzt die verfügbaren bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Instrumente genutzt werden, um die Arbeitsvermittlung erfolgreich zu gestalten. Gleichzeitig muss verhindert werden, dass Flüchtlinge dafür missbraucht werden, Arbeitnehmerrechte zu unterlaufen. Mehrfach wurde in den vergangenen Wochen gefordert, dass arbeitende Flüchtlinge vom Mindestlohn ausgenommen werden. Derartige Vorschläge können zu sozialem Sprengstoff werden. Der Mindestlohn darf nicht aufgeweicht werden.

Wolfgang Schäuble kann und muss endlich die Politik der "Schwarzen Null" beenden. Sie geht zu Lasten der gesamten Gesellschaft. Er muss die Milliarden von Euro für Bildung, Arbeitsmarktpolitik, sozialen Wohnungsbau und das Gesundheitswesen ausgeben, die seit vielen Jahren überfällig sind.

"Die Not der Städte und Gemeinden ist politisch gemacht"