Ausgabe 05/2016
Die tiefe Krise der abhängigen Arbeit
Werner Rügemer ist freier Autor und Publizist
Die Europäische Union hat viele Krisen: bankrotte Privatbanken, überschuldete Staaten (auch die mit der schwarzen Null), ungeliebtes Führungspersonal und so weiter. Der Krisenmix zeigte sich auch beim "Brexit". Die Mehrheit der Briten wollte, dass ihr Staat die EU verlässt. Aber "Drinbleiben" oder "Rausgehen": Beides kann für die Mehrheit der Bevölkerung genauso schlecht bleiben oder werden, wenn nicht die Krisenursachen und die Alternativen genauer benannt werden.
Die wohl am meisten verdrängte und am meisten verzerrt dargestellte Krise ist die der abhängigen Arbeit. Das gilt für die gesamte Europäische Union, für Großbritannien, für Griechenland und Portugal, aber auch für die wichtigsten EU-Staaten wie Frankreich und Meister Deutschland.
"Es geht uns allen gut", so die Dauerbotschaft der deutschen Bundeskanzlerin. So gnadenlos schlicht kann man die tiefste Krise der Arbeit beschönigen, die die Bundesrepublik Deutschland je hatte: Die Erpressungssituation von Millionen Arbeitslosen, Mindestlöhnern, Werkvertraglern, "Aufstockern", unfreiwillig Teilzeitarbeitenden und Leiharbeitern, Mehrfachjobbern, Ein-Euro-Jobbern, befristet Beschäftigten, aus Not arbeitenden Rentnern und Rentnerinnen und der vielen, die sich täglich ein paar Nahrungsmittel bei den eintausend mildtätigen Tafeln in Deutschland abholen müssen.
Unternehmenschefs nötigen Beschäftigte zu immer mehr unbezahlten Überstunden. Gegenwärtig werden so pro Jahr die Gewinne der Aktionäre und die Einkommen der Topmanager mit mindestens 40 Milliarden Euro zusätzlich subventioniert, und das sind nur die dokumentierten Überstunden, während die Zahl der nicht dokumentierten Überstunden ebenfalls wächst. Aus Angst um ihren Job verzichten Beschäftigte auf immer mehr Urlaubstage. Während Millionen Beschäftigte mit Vollzeitstellen 45 und auch viel mehr Stunden in der Woche arbeiten, sind Millionen andere Beschäftigte gezwungen, sich mit 15 oder 20 Stunden mit Teilzeitjobs über Wasser zu halten. Und die Statistiken über die Zahl der Arbeitslosen werden manipuliert. Keine Krise der Arbeit? Es geht uns allen gut?
Diese verheerende Entwicklung haben die Verantwortlichen der Europäischen Union spätestens seit dem Jahr 2000 gezielt vorangetrieben. Mit der "Strategie von Lissabon" sollte die EU "der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt" werden. Die deutsche Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder installierte damals die Agenda 2010: Deutschland sollte vorangehen. So wurde Deutschland zum größten Niedriglohngebiet der EU "reformiert".
Dabei blieb es nicht. Die EU richtete nach deutschem Vorbild 2010 das "Europäische Semester" ein. Die Staaten sollen Leistungen kürzen und noch günstigere Rahmenbedingungen für Unternehmen schaffen - mit Strafzahlung bei Nichtbefolgen. Das kontrolliert die Europäische Kommission in allen 28 EU-Mitgliedsstaaten jährlich. Sie interveniert lohnpolitisch, nicht nur in Griechenland, Zypern, Spanien, Finnland und Portugal. Sie interveniert nun auch in den großen Staaten.
Die Kommission zwang die Regierung von Matteo Renzi in Italien, den Arbeitsmarkt "wettbewerbsfähiger" zu machen. Die Kommission steht - gemeinsam mit dem Unternehmerverband MEDEF - auch hinter dem aggressiven Arbeits"reform"gesetz der französischen Regierung unter dem Staatspräsidenten Francois Hollande. Diese "Reform" geht noch über die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze hinaus: Zum Beispiel sollen die Lohnverhandlungen in die einzelnen Unternehmen verlagert werden. Die Parole lautet: Gewerkschaften überflüssig machen! Und dieses Gesetz will die Regierung per Notverordnung am Parlament vorbei durchziehen.
Im Jahresbericht 2016 der Kommission befindet sich übrigens auch die Bundesrepublik unter den Staaten mit "makroökonomischem Ungleichgewicht", deshalb seien weitere Struktur"reformen" nötig. Die Kommission will zudem für jeden Mitgliedsstaat einen nationalen "Wettbewerbsausschuss" einrichten, der die Löhne überwacht und in die Tarifautonomie eingreifen darf. Das zerstörerische Lohn- und Rechts-Dumping innerhalb der EU-Staaten und zwischen ihnen würde noch aggressiver und würde nie aufhören.
Dieser Entwicklung muss ein Ende gesetzt werden! Frankreich ist das erste große EU-Land, in dem breiter und perspektivenreicher Widerstand gegen solche Arbeitsgesetze organisiert wird. Er sollte endlich der Anstoß sein für einen europäischen koordinierten Widerstand, als Teil einer demokratischen, konstitutionellen und sozialen Neugründung Europas.
Diese verheerende Entwicklung haben die Verantwortlichen der Europäischen Union spätestens seit dem Jahr 2000 gezielt vorangetrieben