Ausgabe 05/2016
Europa steht auf der Kippe
Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise. Der Flüchtlingsandrang, die Wahlerfolge von Rechtspopulisten, der Austritt der Briten - die Probleme gehen an die Substanz. Europa ist wirtschaftlich, sozial und politisch gespalten. Mehr als 22 Millionen Europäer haben keine Ar- beit, unter ihnen dramatisch viele junge Menschen. Jeder vierte EU-Bürger ist von Armut bedroht. Rechte der Arbeitnehmer/innen werden mit Füßen getreten. Der Sozialstaat wird zusammengestrichen: Europa steht auf der Kippe.
In der zunehmenden Ungleichverteilung liegt eine der Hauptursachen. Sie schadet der wirtschaftlichen Entwicklung und ist zugleich der Nährboden für den Aufstieg der Rechtspopulisten. Eine kleine Minderheit häuft über ihren Kapitalbesitz immer größere Macht an, während sich die übrige Gesellschaft zunehmend vor Abstieg und Ausgrenzung fürchtet. Das bereitet Rassismus, Chauvinismus und Nationalismus den Boden. Seit Jahren destabilisiert diese Fehlentwicklung demokratische Systeme - so etwa in Ungarn und Polen.
Der Erfolg der AfD in Deutschland wäre nicht möglich ohne die Radikalisierung neoliberaler Politik durch die Agenda 2010 von Rot-Grün und ohne die Fortsetzung dieser Gesellschaftspolitik unter Führung von CDU und CSU: Andauernde soziale Ungerechtigkeit ist zum Markenzeichen der Großen Koalition geworden. Wir Gewerkschaften sagen jedoch: Es gibt Alternativen zur gegenwärtigen Politik in Deutschland und in Europa! Aber die Parteien wollen sie nicht zur Kenntnis nehmen.
Ein Europa, für das sich junge und ältere Menschen wieder begeistern können, braucht ein anderes wirtschaftliches und soziales Modell. Dazu gehören - so der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), der mehr als 60 Millionen Arbeitnehmer/innen repräsentiert - eine starke Wirtschaft, die in Vollbeschäftigung und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze investiert, ein Ende der Kürzungspolitik sowie höhere Löhne zur Ankurbelung der Binnennachfrage. Soziale Grundrechte müssen Vorrang vor wirtschaftlichen Freiheiten haben.
Ein besseres Europa
Dazu brauchen wir Richtlinien für gute Arbeit, für eine nachhaltige Zukunft, starke öffentliche Dienstleistungen, Steuergerechtigkeit, ein Ende der Finanzspekulation und eine veränderte europäische Regierungsführung. Wir treten für stärkere Gewerkschaften ein, die sozialstaatliche Werte und Demokratie in der Arbeitswelt durchsetzen. Das setzt Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Streik voraus - ein Arbeits- und Sozialrecht, das auf sozialen Fortschritt ausgerichtet ist, ein Ende von Sozialdumping und Deregulierung, faire und gleiche Behandlung für alle - ohne Diskriminierung. Zudem muss die EU ausgewogen und fair auf die Migrationsströme reagieren. Arbeitsmigranten sollten zügig in den Arbeitsmarkt, in die Gewerkschaften und die Gesellschaft integriert werden.
Grundlage dafür ist und bleibt die europäische Idee eines friedlichen und geeinten Europas. Nationalismus und Kleinstaaterei haben uns Krieg und Elend gebracht. Wir wollen ein anderes, ein besseres Europa - kein Europa der Konzerne. Dazu brauchen wir eine andere Politik. Wir Gewerkschaften können zusammen mit sozialen Bewegungen dazu einen Beitrag leisten. Wir müssen für eine glaubwürdige Alternative zur jetzigen Politik Mehrheiten organisieren - gemeinsam mit Bündnispartnern. Lasst uns für ein sozial gerechtes Europa eintreten.
Buchtipp: Klaus Busch: Das Versagen Europas. Die Euro- und die Flüchtlingskrise sowie die "Brexit"-Diskussion, Hamburg 2016, VSA-Verlag, 9,90 €