Ausgabe 05/2016
Im Epizentrum der Proteste
Polizei rückt am 19. Juni gegen Protestierende vor. An diesem Tag sterben elf Menschen, 22 wurden verletzt.
Auf zehn statt wie zuvor noch 50 Straßenblockaden hat die Coordinadora Nacional de Educación (CNTE), die unabhängige nationale Lehrergewerkschaft in Mexiko ihre Aktivitäten reduziert. "Wir wollen keine Eskalation, alle Straßensperren sind für Lebensmitteltransporte durchlässig", sagt Gabriel López Chiñas. "Es ist Propaganda, dass die Versorgungssituation in Oaxaca prekär ist." Der in der CNTE organisierte Lehrer ärgert sich über die sensationsgierigen Medien, die etwa mit Preisen von 45 Peso (mehr als 2 Euro) für ein Ei Stimmung gegen die streikenden Lehrer in Mexikos Süden machen. Der Bundesstaat Oaxaca, einer der ärmsten des Landes, ist das Epizentrum der Proteste, aber auch im benachbarten Chiapas und Guerrero sowie in Michoacán gehen die Lehrer/innen gegen die sogenannte Bildungsreform der Regierung auf die Straße.
80.000 der rund 200.000 CNTE-Mitglieder stammen aus Oaxaca. Dort haben sich viele Eltern, aber auch soziale Organisationen mit den streikenden Pädagogen solidarisiert, sagt Marcos Leyva Madrid. Der Direktor von Educa, einer für mehr Bildung in Randregionen eintretenden Organisation, kritisiert, dass die Bildungsreform im September 2013 ohne die Beteiligung von Lehrern, Eltern und Schüler/innen durch das Parlament gebracht wurde. "Vordergründig geht es darum, Mexikos Bildungssystem besser zu machen, hintergründig aber darum, arbeitsrechtliche Standards abzusenken und die Gewerkschaft unter Kontrolle zu bringen", kritisiert Leyva Madrid die Reform. Die ist seit dem 15. Mai, dem Tag des Lehrers, landesweit Thema. An diesem Tag begannen die Proteste gegen die Bildungsreform in Mexiko Stadt.
Blutige Auflösung der Blockade
Vor allem im Süden des Landes wurden sie weitergeführt - mit Straßenblockaden, Märschen und Protestcamps wie auf dem Zócalo von Oaxaca de Juárez, dem zentralen Platz der Hauptstadt des Bundesstaates Oaxaca. Dort stehen jeden Morgen Aktivisten der CNTE, informieren, sammeln Unterschriften und zeigen Präsenz, ähnlich wie in der Gemeinde Nochixtlán. In der kam es am 19. Juni zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Lehrern und Federales, der Bundespolizei. Die Polizei setzte Schusswaffen ein. Elf Menschen starben, weitere 22 wurden teils schwer verletzt. Der Ombudsmann für Menschenrechte in Oaxaca, Arturo Peimbert Calvo, kritisierte am 5. Juli, es gebe keine Kooperation zwischen regionalen und nationalen Behörden. Das habe dazu geführt, dass die Spurensicherung nicht umgehend aktiv geworden sei, Informationen, welche Polizeieinheiten vor Ort im Einsatz gewesen seien, wurden nicht umgehend weitergegeben, und die Ermittlungsarbeiten seien behindert worden, erklärte Peimbert Calvo gegenüber dem Nachrichtenmagazin Proceso. Diese Missstände haben dazu geführt, dass der Kongress am 5. Juli eine Kommission zur Untersuchung der Vorfälle rund um die blutige Auflösung der Straßenblockade durch die Bundespolizei gründete.Sie soll aufklären, um eine Wiederholung derartiger Gewalttaten zu verhindern.
Das ist jedoch nicht auszuschließen, denn die Verhandlungen zwischen Innenminister Osorio Chong und den CNTE- Vertretern blieben ergebnislos. Chong machte von Beginn an klar, dass eine Rücknahme oder Modifizierung der Bildungsreform ausgeschlossen sei. "Das ist keine Verhandlungsgrundlage", sagt Gabriel López Chiñas, der lange in den Leitungsgremien der Gewerkschaft war und nun in einer Kommission arbeitet, die Strategien für die Zukunft entwickelt.
Bildungskonzept der Gewerkschaft
Ein alternatives Bildungskonzept hat die Gewerkschaft, die sich 1979 als linke Alternative für die eng mit der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) verwobene und als korrupt geltende SNTE (Nationale Gewerkschaft der Arbeiter im Bildungssektor) gründete, längst auf den Tisch gelegt.
Das Konzept zielt darauf ab, das Bildungssystem im Süden Mexikos effektiver zu machen und die heftig umstrittene Evaluierung der Arbeit der Lehrer den lokalen Verhältnissen anzupassen. "Wir unterrichten oft unter prekären Bedingungen, in Schulen ohne Wasseranschluss, manchmal ohne richtige Klassenräume und fast immer ohne Internet. Die standardisierten Fragebögen werden den Verhältnissen nicht gerecht", kritisiert López Chiñas. Kein Wunder, denn sie wurden von der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, entworfen, aber der Süden Mexikos lässt sich nicht mit Finnland und auch nicht mit entwickelten mexikanischen Bundesstaaten wie Puebla oder Jalisco vergleichen. Argumente, die in Mexiko Stadt auf verschlossene Ohren treffen. Dort setzt Bildungsminister Aurelio Nuño Mayer auf die harte Hand. Er hat öffentlich durchgerechnet, wie viele pensionierte Lehrer und Lehreranwärter zur Verfügung stehen, um den Widerstand der CNTE zu brechen.
Das kritisieren Experten wie der Rektor der Unabhängigen Nationaluniversität Mexikos, Enrique Graue. Er plädiert für eine umfassende Reform, um das niedrige Bildungsniveau zu heben, das die Pisa-Tests Mexiko bescheinigen. Neue Bildungskonzepte, die Überprüfung der Inhalte und nicht allein die Evaluierung der Klassen und Lehrer seien nötig, so Graue. In Mexiko werde pro Schüler deutlich weniger ausgegeben als in anderen OECD-Ländern. Das sind Aspekte, die auch die CNTE in ihrem Reformvorschlag kritisiert. Die Gewerkschaft plädiert für mehr öffentliche Investitionen. Die sind in der Reformagenda der Regierung allerdings nicht vorgesehen.