Ausgabe 05/2016
Wildwest auf den Straßen
Traurig macht es die Post-Betriebsrätin Renate Birkel, wenn "Menschen so leben müssen, dass sie tagelang, wochenlang unterwegs sind" und nicht einmal genug haben, "um ordentlich zu leben". Osteuropäische Sprinterfahrer, die für Subunternehmer der Deutschen Post Briefe verteilen, kampieren oft sogar auf Postgelände. Doch nicht nur diese Fahrer kampieren wochenlang in ihren Fahrzeugen. Auch viele osteuropäische Lkw-Fahrer auf Autobahnen und Fernstraßen werden notgedrungen zu modernen Nomaden. Dass sie ihre Ruhezeiten fast ausschließlich im Fahrzeug verbringen, gaben 85 Prozent der bulgarischen und rumänischen Fahrer an, die 2014 vom Bundesamt für Güterverkehr dazu befragt wurden. Etwa die Hälfte erklärte, keine Spesen für Übernachtung oder Verpflegung zu bekommen und weniger als einmal im Monat ein Wochenende zu Hause zu verbringen.
Politik des Wegsehens
Fahrer aus den jüngeren EU-Ländern sind am prekärsten dran. Die holländische Gewerkschaft FNV deckte kürzlich auf, dass einige von ihnen auch über legale Konstruktionen wie diese schamlos ausgenutzt werden: Von einem österreichischen Autotransporteur in Belgien angeheuert, bringen rumänische Fahrer fabrikneue Mercedes-Limousinen quer durch Europa - für einen geringen Lohn. Wie die Post kann auch der Automobilkonzern eine direkte Verantwortung von sich weisen, verlange man bei Ausschreibungen doch ausdrücklich Fairness bei Bezahlung und Arbeitsbedingungen. Nur deren Einhaltung prüft offenbar niemand. Die "Politik des Wegsehens ist unerträglich", kritisiert die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis deshalb und fordert Politik und Unternehmen zum Handeln auf. "Andere EU-Staaten setzen die entsprechenden Vorschriften rigoros um", sagt sie, doch in Deutschland werde weder kontrolliert noch sanktioniert. "Das macht diese unwürdigen Zustände überhaupt erst möglich."
Auch eine aktuelle DGB-Untersuchung zu Transport-Beschäftigten prangert an, dass sich die Situation in der Lkw-Branche, geradezu wildwestartig gestalte - so, "als ob es keine Regeln und Gesetze geben würde". Dafür sprechen Fälle wie dieser: Der deutsche Ableger eines dänischen Transportunternehmens aus der Nähe von Flensburg legte im Frühjahr polnischen Kraftfahrern "Arbeitsverträge" mit Klauseln vor, nach denen der Fahrer die Lohnsteuer selbst entrichten soll. Auch seine Krankenversicherung solle er selbst bezahlen.
Ohne Tarif und Mitbestimmung
Fahrer, die Kroatisch, Bulgarisch oder Polnisch sprechen und die Arbeitnehmerfreizügigkeit nutzen, sind in deutschen Speditionen längst keine Ausnahmen mehr. Für sie gelten im besten Fall tarifliche Regelungen, ist ein Betriebsrat zuständig. Auf deutschen Straßen fahren ausländische Lenker aber auch gemäß Arbeitnehmerentsendegesetz oder für gebietsfremde Unternehmen. Dafür gibt es weder Tarif noch Mitbestimmung. Viel zu oft komme es vor, dass "Unternehmer die schwache Situation ausländischer Beschäftigter ausnutzen", kritisiert DGB-Bundesvorstandsmitglied Annelie Buntenbach, die sich für faire Mobilität, gerechte Entlohnung und ordentliche Arbeitsbedingungen stark macht. Der DGB hat dazu ein Beratungsnetzwerk aufgebaut. In mehr als der Hälfte der Fälle, berichtet Dorota Kempter aus Stuttgart, die speziell für ausländische Kurier-, Lkw-Fahrer und Lagerbeschäftigte zuständig ist, sei es 2015 um Entlohnungsprobleme gegangen: "Immer wieder gibt es Abzüge - für zu viel Treibstoff, mangelnde Sauberkeit, private Handynutzung oder sonstige vermeintliche Vergehen."
Sie hat für das Projekt "Faire Mobilität" einen Informations-Flyer für Fahrer mit erarbeitet. Am Anfang steht die Frage: "Wussten Sie, dass es in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn gibt?"
Hilfe könnten diese Beschäftigten nun auch aus Brüssel erwarten. Die EU-Kommission will mit einer Reform der Entsenderichtlinie gegen Sozialdumping vorgehen und Arbeitnehmer, die von einer ausländischen Firma in ein EU-Land entsandt werden, wirklich den einheimischen Kollegen gleichstellen. Für ver.di und den DGB ist das trotz notwendiger Nachbesserungen ein Schritt in die richtige Richtung. Doch die einheimischen Hausaufgaben bleiben: Auch die Deutsche Post AG müsse "handeln und für rechtmäßige Arbeitsbedingungen bei den Subunternehmen sorgen", so Andrea Kocsis. Sonst gerieten Standards generell unter Druck. Helma Nehrlich
DGB-Projekt "Faire Mobilität"
Es hilft, gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer/innen aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten in Deutschland durchzusetzen. Erstberatung in Berlin, Dortmund, im Rhein-Main-Gebiet, in Oldenburg, Kiel, München, Stuttgart. Auch die DGB-Studie "Beratung für mobile Beschäftigte in Deutschland. Eine Bedarfsanalyse zu den gewerkschaftlichen Beratungsstrukturen in Deutschland" steht auf der Website: www.faire-mobilitaet.de
Europäische Bürgerinitiative "Fairer Transport in Europa - Gleichbehandlung aller Verkehrsbeschäftigten": http://sign.fairtransporteurope.eu