Ausgabe 06/2016
Dem Kapitän die Hand schütteln
Gerald Kemski auf dem Kuhwerder-Terminal. Hinter ihm ein Kran zur Verladung von Getreide
Er liegt verlassen da, der Kuhwerder-Terminal. Wie eine Zunge ragt er in das Hafenwasser. Am Rand des Geländes sind undeutlich Gleise auf schmalen Betonstreifen zu erkennen. Überall sind die Kai-Anlagen mit Unkraut bewachsen. Bis 2007 wurden dort Schiffe be- und entladen, Güter über Straßen und Schienen transportiert. Hafenumschlag nennt man das. Doch heute befinden sich auf dem ehemaligen Terminal nur Erdhaufen und ein einsames WC-Häuschen. Rundherum stehen Bauzäune. Das Gelände wird derzeit aufgeschüttet. "Der Hafen wächst", frohlockt ein Schild am Eingang des Geländes. Unklar ist jedoch, was auf Kuhwerder in Zukunft gebaut werden soll. Gerald Kemski hat dort bis zuletzt als technischer Angestellter gearbeitet. Es fühlt sich "ziemlich merkwürdig an" den Terminal heute zu betreten, sagt er, denn er findet anstelle eines lebendigen Betriebes eine Landschaft vor, die ihn an einen "Vogelbrutplatz" erinnert.
Von Kuhwerder aus sind in der Ferne Kräne zur Verladung von Containern zu erkennen. Sie stehen weiter westlich in Richtung der Elbemündung. Dort wächst der Hafen rasant, denn die Konkurrenz unter den europäischen Containerdrehscheiben führt zu ständigem Hafenausbau. Doch im alten zentralen Hafengelände findet kaum noch Güterumschlag statt, wie Kemski auf unserer Tour durch den Hamburger Hafen anschaulich zeigt. Es sind nur kleinere Betriebe übrig geblieben. Früher boomte im zentralen Hafen vor allem die konventionelle Arbeit mit dem sogenannten Stückgut. Auf Kuhwerder wurden noch in unterschiedlich großen Kisten Güter, etwa Maschinen und landwirtschaftliche Geräte, auf Schiffe geladen. Sie konnten aufgrund ihrer sperrigen Maße nicht in standardisierte Container gepackt werden und wurden daher weiterhin im herkömmlichen Hafenbetrieb abgefertigt. Arbeiter bewegten das Stückgut noch mit Kränen und Gabelstaplern, statt auf der Containerbrücke einen Joystick zu bedienen.
Einer der letzten herkömmlichen Umschlagsbetriebe im Hafen
Gerald Kemski war auf Kuhwerder für die Planung der Schiffsladungen zuständig und hatte es mit den ungleichen Kisten zu tun. Die Arbeit sei geistig fordernd gewesen. Er läuft schnellen Schrittes über den heute vereinsamten Terminal. Um etwas zu erklären, bleibt er kurz stehen. "Das hat schon einen Riesenspaß gemacht. Du arbeitest mit dem Schiff, was du direkt vor der Nase liegen hast und gehst da an Bord, um dem Kapitän die Hand zu schütteln. Das ist natürlich absolut geil", sagt Kemski.
"Ey, wo ist hier Sackgut?"
Die Hafenarbeit war kaum automatisiert, daher arbeitsintensiv und körperlich anstrengend. Am Kuhwerder-Terminal wurde gelegentlich sogar noch Kakao in Säcken verladen. "Ich hab noch Leute kennengelernt, die Sackgut geschmissen haben. Würden wir das machen, wir wären nach einer halben Stunde tot", erzählt Kemski. Er imitiert mit tiefer Stimme den Typ des im Akkord säckewerfenden Hafenarbeiters: "Der kam zum Einteiler und rief: ‚Ey, wo ist hier Sackgut'!" Kemski lacht.
Schon steigt er wieder ins Auto ein, um die nächste Station der Tour durch den Hamburger Hafen zu erreichen. Einen Freund, der am Lenkrad sitzt, dirigiert er zuverlässig durch das verzweigte Hafengelände. "Da müssen wir abbiegen", sagt Kemski. "Ich weiß gar nicht mehr, wo wir sind", sagt sein Begleiter und schmunzelt dabei, während er den Wagen durch den Verkehr steuert. Lkws bewegen Container durch das Hafengelände, um über die Autobahnen europaweit ihre Abnehmer zu finden.
Der Saalehafen liegt ebenfalls im zentralen Hafenbereich, direkt auf der Veddel nahe der Lkw-Hauptroute, nur wenige Autominuten von der Hamburger Innenstadt entfernt. Auch hier fand bis in die 1990er Jahre der alte Güterumschlag statt. Der Hafen wirkt heute ebenfalls verwaist. Kemski war vor seiner Anstellung am Kuhwerder-Terminal dort 15 Jahre lang beschäftigt und plante die Be- und Entladung tschechischer Binnenschiffe. Er erzählt vom florierenden Handel auf der Elbe. Der Saalehafen fiel nach dem Ersten Weltkrieg an Tschechien: eine historische Kuriosität und Resultat des deutschen Weltmachtstrebens. Im Kalten Krieg gab es dort eine kommunistische Geschäftsführung, die ausschließlich deutsche Hafenarbeiter beschäftigte. Ein Schild kennzeichnet das Gelände noch heute als tschechisches Hoheitsgebiet. Der Freund macht einen Scherz: "Einen Pass hab ich nicht dabei."
Nach Betreten des Saalehafens zeigt Kemski auf ein Backsteingebäude zu seiner Rechten: "Hier war mein Betriebsratsbüro." Als er an der Kaimauer mit Blick auf eine Schuppenfront stehen bleibt, sagt er: "Wir haben einen Betriebsrat gegen den Willen der kommunistischen Geschäftsführung durchgesetzt. Das gab richtig Rempeleien. Der Geschäftsführer meinte: ‘Pass mal auf, du stehst auf der anderen Seite'", sagt Kemski und lacht. "Er konnte die Betriebsversammlung nicht verhindern. Der musste dazulernen."
Damals wurde auf engem Raum zusammengearbeitet, und die Gewerkschaft war gut angesehen. Betriebsräte konnten Einfluss auf die Arbeitsbedingungen nehmen. "Unser Betriebsratsvorsitzender hat morgens beim Einteiler gestanden, und wenn ein Kollege ins Sackgutgeschäft geschickt wurde, obwohl er Rückenschmerzen hatte, ist er dann eben auf dem Gabelstapler gelandet", schildert Kemski einen Fall aus seiner Zeit am Kuhwerder-Terminal, wo er als Vertrauensleutemann der ver.di-Vorläuferorganisation ÖTV Ansprechpartner für seine Kollegen und ihre Probleme war.
Der letzte Streik
Der langjährige Gewerkschafter erzählt auch vom letzten Streik im Hamburger Hafen 1978. Als technischer Angestellter konnte er nicht unmittelbar teilnehmen, beteiligte sich aber an Solidaritätsaktionen der ÖTV. Der Tarifabschluss sei damals ein großer Erfolg gewesen. Heute stimmt ihn die mangelnde Streikerfahrung der nachfolgenden Generationen oft nachdenklich: "Es ist ein Problem, dass so ziemlich alle, die 1978 mitgemacht haben, schon in Rente sind oder demnächst in Rente gehen." Es fand nicht nur massenhaft Güterumschlag im zentralen Hafengelände statt, auch hinsichtlich der gewerkschaftlichen Macht sei der Hafen damals "eine ganz andere Welt" gewesen.
Zur Jahrtausendwende musste die ÖTV für Beschäftigte der Hafenbetriebe auf Lohnzuwachs verzichten, um auch den Kuhwerder-Terminal zu erhalten: "Seitdem gibt es einen geteilten Hafen. Die Arbeiter an den Containerterminals haben bei Tarifabschlüssen immer mehr bekommen", sagt Kemski. Als freigestellter Betriebsrat begleitete er einige seiner Kollegen sieben Jahre später schließlich zum Arbeitsamt: "Da kannst du ja keinen alleine hingehen lassen."
Arbeitslosigkeit droht Ende dieses Jahres nun auch den gut organisierten Kollegen vom Buss Hansa Terminal: Einer der letzten großen Betriebe der konventionellen Hafenarbeit in Hamburg wird schließen. Kemski unterstützt als Mitarbeiter der linken Hamburger Bürgerschaftsfraktion die Kolleg/innen vor Ort. Er spricht sich in der Politik auch gegen den Überbietungswettbewerb der europäischen Containerhäfen aus.
Lebenslang ver.di und St. Pauli
Im Hafen fängt es wieder an zu nieseln: Hamburger Wetter halt. An Gerald Kemskis rechtem Handgelenk baumelt ein Bändchen des Fußballvereins FC St. Pauli. "Ich habe eine Lebensdauerkarte bei St. Pauli." Auch der Gewerkschaft fühlt er sich lebenslang verpflichtet. Im kommenden Oktober geht Kemski in den Ruhestand, doch er wird bei ver.di aktiv bleiben und sich weiter engagieren: für eine gerechte Rentenpolitik. "Gegen die Altersarmut muss man doch was machen!" Auch Mitglied im ver.di-Landesbezirksvorstand möchte er bleiben.
Mit Gerald Kemski geht nach und nach eine Generation von Hafenarbeitern in den Ruhestand, die die Mühen der herkömmlichen Hafenarbeit noch kannte. Heute werden in Hamburg umgeschlagene Stückgüter zu 98 Prozent in Containern transportiert. Doch die Zukunft der Hafenarbeit und die Gestaltung des Hamburger Hafens dürfe nicht allein den Pfeffersäcken überlassen werden, findet Kemski. Auf Erfahrungen der älteren Hafenarbeiter könne ver.di zurückgreifen, denn der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit sei auch im Hafen derselbe geblieben.
Gerald Kemski, geboren 1951 in Hamburg, begann im Jahre 1968 eine Ausbildung zum Speditionskaufmann bei der Seehafenspedition Kühne & Nagel. Im Betrieb gründete er eine Jugendvertretung und trat in die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) ein. Nach seinem Wehrdienst bei der Marine fand Kemski 1975 eine Anstellung bei einer Umschlagsfirma der tschechischen Elbschifffahrt am Saalehafen in Hamburg und wurde Betriebsratsvorsitzender. Von 1990 bis 2007 arbeitete er für das Logistikunternehmen Buss in Hamburg, engagierte sich als stellvertretender Betriebsratsvorsitzender und wurde Vertrauensleutesprecher. Nach zwei Jahren bei einer Reederei ging er im Jahre 2009 als Mitarbeiter von Abgeordneten der Linkspartei im Europaparlament in die Politik. Zudem arbeitet er seit 2014 für die linke Hamburger Bürgerschaftsfraktion und engagiert sich im Landesbezirksvorstand von ver.di-Hamburg. Im Oktober 2016 geht er in Rente.