Henrik Müller war bis 2015 Redakteur bei ver.di publik

Die Diskussionskultur der politischen Eliten ist weltweit auf einem Tiefpunkt des Populismus angekommen. Auch hierzulande feiern Oberflächlichkeit, Vorurteile und Vereinfachung Triumphe - vor allem in den Medien: Die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin und ihre Unbelehrbarkeit in Fragen der Migration seien die Ursache des massiven Einbruchs ihrer Partei bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern und des Durchmarschs einer selbsternannten "Alternative für Deutschland" (AfD). SPD-Spitzenmann Erwin Sellering hingegen habe nur deshalb die Nase vorn gehabt, weil er in der Zuwanderungsfrage gegenüber Angela Merkel in Frontstellung gegangen sei, hieß es.

Und um das Ruder herumzureißen, um die Christen-Union vor dem sicheren Untergang zu bewahren, übertrumpft die bayerische Schwesterpartei die rechtsgerichtete AfD in sinnlosen flüchtlingsfeindlichen Forderungen. Eine "Obergrenze" für Flüchtlinge soll es geben, ein Burka-Verbot und den Vorrang für Asylsuchende christlichen Glaubens, alles Vorschläge, die unseren vielbeschworenen Werten widersprechen, nämlich dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und den internationalen Verträgen, die wir mit aller Welt geschlossen haben, etwa die Genfer Flüchtlingskonvention.

Wer nur ein bisschen an der Oberfläche dieses "Diskurses" kratzt, lässt ihn sofort in sich zusammenstürzen. Zum Beispiel: Welche Flüchtlingspolitik der Kanzlerin ist denn gemeint? Okay, als vor einem Jahr hunderttausende von Flüchtenden auf dem Weg von Griechenland nach Nordwesteuropa in Ungarn und anderswo feststeckten, hat Angela Merkel für die Öffnung der Grenzen gesorgt und auf diese Weise eine humanitäre Katastrophe gestoppt. Das war, ist und bleibt ihr menschliches und politisches Verdienst, und sie hat damit auch viele hunderttausend Bürger/innen darin bestärkt, eine beeindruckende Willkommenskultur zu entwickeln.

Aber vor und bald nach ihrem beherzten "Wir schaffen das" hat die Regierungskoalition aus CDU, CSU und SPD unter Merkels Führung eine ausgesprochen hartleibige und hartherzige Politik gegenüber den Schutzsuchenden aus aller Welt betrieben und alles getan, um so viele Flüchtlinge wie möglich daran zu hindern, in Deutschland ihr Recht auf Asyl geltend zu machen. Nie ist dieses Grundrecht hierzulande so radikal eingeschränkt worden wie in den zurückliegenden zwölf Monaten. Das Ergebnis: Die Zahl neu einreisender Flüchtlinge ist um gut 80 Prozent zurückgegangen, in vielen Gemeinden stehen die Notunterkünfte leer.

Diese Flüchtlingspolitik kann es - bei Lichte betrachtet - also nicht sein, die die vielzitierten "Ängste und Nöte" eines bedeutenden Teils der Wahlbürger/innen verursacht. Und so, wie sich in Wahrheit dahinter - oft berechtigte - Sorgen um die eigenen sozialen Existenzgrundlagen verbergen, so ist die erwähnte Dramatisierung des Themas Zuwanderung und Asyl in der öffentlichen Debatte für die etablierte Politik ein probates Mittel, von allerlei skandalösen Zuständen in einem der reichsten Länder der Welt abzulenken. Als da zum Beispiel wären: eine sich abzeichnende Altersarmut unvorstellbaren Ausmaßes, die wachsende, millionenfache Kinderarmut, trotz Mindestlohns immer noch alljährlich zehn Milliarden Euro an Wirtschaftssubventionen durch Hartz-IV-Aufstockung von Niedriglöhnen, mit mehr als einer Million so viele Leiharbeitnehmer/innen wie nie zuvor. Und das alles bei einem Rekordüberschuss der öffentlichen Haushalte von 18,5 Milliarden Euro allein im ersten Halbjahr 2016.

Vor diesem Hintergrund muss es auf alle Betroffenen - und über sie hinaus - wie eine Provokation wirken, was Arbeitsministerin Andrea Nahles, SPD, für 2017 mit den Hartz-IV-Regelsätzen vorhat: Erwachsene sollen gerade mal einen Heiermann mehr bekommen (5 Euro im Monat!), eine Erhöhung um 1,2 Prozent. Kleine Kinder unter fünf Jahren bekommen keinen einzigen Cent mehr. Kinder zwischen sechs und 13 Jahren sollen statt 270 künftig 291 Euro erhalten. Da besteht aber auch ein besonders hoher Nachholebedarf. Diese Erhöhung der Regelsätze beziffert das Nahles-Ministerium mit Kosten in Höhe von 589 Millionen Euro pro Jahr. Klar ist dabei: Die finanzielle Unterstützung von Geflüchteten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz liegt stets um einiges unter(!) den Hartz-IV-Sätzen.

Und wenn wir schon beim kleinlichen Rechnen sind: Wenn bei einem Halbjahresüberschuss von 18.500 Millionen Euro nur knapp 600 Millionen Euro jährlich mehr für 4,3 Millionen Hartz-IV-Bezieher/innen drin sind, dann liegt es eben nicht am fehlenden Geld und schon gar nicht an angeblich zu vielen Flüchtlingen, sondern am mangelnden politischen Willen, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen.

Die Flüchtlingspolitik kann es - bei Lichte betrachtet - nicht sein, die die vielzitierten "Ängste und Nöte" eines bedeutenden Teils der Wahlbürger/innen verursacht