Die Gewerkschaften wehren sich mit Protesten und Streiks gegen die neoliberale Politik der De-facto-Regierung von Michel Temer

"Frauen ohne Furcht" , so kann man die Worte in etwa übersetzen. Aber auch: Ohne Temer. Die Botschaft ist doppeldeutig

Von Harald Neuber

In Brasilien formiert sich nach dem Sturz von Präsidentin Dilma Rousseff der Widerstand gegen die neoliberale Interimsregierung. Die Politikerin war Ende August von einer rechten Parlamentsmehrheit unter fadenscheinigen Gründen abgesetzt worden. Dieser "parlamentarische Putsch" sorgte nicht nur in dem größten Land Lateinamerikas für Unmut, schließlich waren die damit verfolgten Absichten nur allzu deutlich. Rousseff musste offenbar gehen, weil sie gegen die verbreitete Korruption vorgegangen ist. Die Pointe folgte sofort: Die Haushaltstricks, mit der ihre Gegner die Absetzung zu rechtfertigen versuchten, wurden nur wenige Tage nach dem Machtwechsel vom gleichen Parlament legalisiert, das kurz zuvor noch für die Absetzung, das "Impeachment", gestimmt hatte.

Widerstand der Gewerkschaften

Die De-facto-Regierung unter Führung des früheren Vizepräsidenten Michel Temer will nun mit der Brechstange eine neoliberale Restauration durchsetzen, obwohl sie nicht gewählt worden ist. Der Widerstand der Gewerkschaften und sozialen Organisationen richtet sich vor allem gegen den Verfassungszusatz PEC 241, mit dem die politische Führung die Staatsausgaben für die nächsten 20 Jahre einfrieren will. Das Budget des Jahres 2016 soll als Berechnungsgrundlage dienen, im Folgejahr könnte die Gesamtsumme des Bundeshaushalts höchstens in Höhe der Inflation des Vorjahres angehoben werden. Kritiker gehen davon aus, dass das Vorhaben Einschnitte von bis zu 40 Prozent in der Gesundheits- und Bildungspolitik erzwingen würde. Damit sind auch die Errungenschaften der linksgerichteten Arbeiterpartei von Rousseff und ihrem Amtsvorgänger Luiz Inácio Lula da Silva in Gefahr. Unter ihren Regierungen waren zwischen 2003 und 2016 rund 40 Millionen Menschen in Brasilien aus der Armut geholt worden.

Privatisierungen angekündigt

Die Temer-Führung hat zudem massive Privatisierungen angekündigt. Im Visier sind dabei 34 staatliche Unternehmen, Häfen, Flughäfen, Straßen, Eisenbahnen, Energie, Erdöl und Erdgas. Der brasilianische Markt solle geöffnet werden, sagte Temer. Er sei davon überzeugt, dass nur so Wirtschaftswachstum und der Rückgang der Arbeitslosigkeit zu erreichen seien. Industrie, Dienstleistungen und Agrarindustrie müssten weiter ausgebaut, das Vertrauen von Investoren in das Land wiederhergestellt werden. Für die Privatisierungen wurde ein "Programm zur Investitionsförderung" unter Leitung von Moreira Franco gestartet, berichtet das deutsche Lateinamerika-Portal amerika21: Der Politiker sei bereits unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso (1995-2003) für Privatisierungen zuständig gewesen.

Zehntausende auf der Straße

Gewerkschaften und Sozialorganisationen laufen gegen diese Vorhaben Sturm. Unter dem Motto "Keine Rechte aufgeben" gingen schon Ende September landesweit Zehntausende auf die Straße, es folgten Großdemonstrationen im Oktober, und im November soll ein Generalstreik stattfinden. Das Fass zum Überlaufen brachte der Vorschlag der Temer-Führung, das Renteneintrittsalter auf einen Zeitpunkt zwischen 65 und 70 Jahre festzulegen. Bisher ist der Renteneintritt von der Arbeitsdauer abhängig. Für Brasilien, wo vor allem Landarbeiter schon im Kindesalter arbeiten, ist das eine wichtige Regelung. Setzt sich die Regierung durch, müssten sie ein Leben lang arbeiten. Bei einem Rentenalter von 65 Jahren hätten viele Landarbeiter der Statistik zufolge nach Ende der Erwerbstätigkeit nur noch wenige Monate zu leben. Der größte Gewerkschaftsdachverband CUT spricht von inzwischen 55 Gesetzesinitiativen im Kongress, die die Rechte von Arbeitern und Angestellten einschränken würden.

Der CUT-Verantwortliche für internationale Beziehungen, Antonio Lisboa, schilderte im Gespräch mit ver.di publik die Befürchtungen der Gewerkschaftsbewegung: "Wenn die Temer-Führung mit ihrer Politik durchkommt, würde Brasilien auf das Niveau der Armut und Ungleichheit von vor 2003 zurückfallen." Damals war die linksgerichtete Arbeiterpartei ans Ruder gekommen. "Wir wissen derzeit gar nicht, wogegen wir zuerst protestieren sollen", sagt Lisboa. So sollen die derzeit 44 Arbeitsstunden pro Woche ausgeweitet werden, das Mindestarbeitsalter von derzeit 14 Jahren soll gesenkt werden.

Für die deutsche Bundesregierung ist die Brasilien-Politik angesichts solcher Entwicklungen eine Gratwanderung. Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass Deutschland mit Brasilien seit 2009 eine "strategische Partnerschaft" unterhalte. Die Folge: Während im Bundestag alle Fraktionen die Absetzung Rousseffs verurteilen, treibt Deutschland in der EU nach Auskunft beteiligter Diplomaten eine rasche Rückkehr zum normalen Tagesgeschäft voran.