Ausgabe 08/2016
Arbeitsrecht ist Vergangenheit
Große Geldscheine sehen die meisten Griechen nur noch auf dem Werbeplakat einer Bank in Athen
Seitdem Griechenland den Sparprogrammen der Troika unterliegt, hat sich die Situation für die meisten Menschen dramatisch verändert. So für den Gewerkschaftssekretär Achileas, der inzwischen Rentner ist und sich noch gut daran erinnert, wie es war, als er anfing zu arbeiten. Er und seine Kollegen, so berichtet er, besaßen nur einen einzigen Anzug, einen Winteranzug. Den trugen sie bei zwei Gelegenheiten: um das neue Jahr zu begrüßen und bei der Unterzeichnung des neuen Tarifvertrags ihrer Branche. "Normalerweise kam der neue Tarifvertrag bereits vor dem Jahreswechsel zustande", sagt Achileas, "aber selbst wenn sich die Verhandlungen verzögerten, hatten wir die Gewissheit, dass der Tarifvertrag in den ersten Monaten des neuen Jahres abgeschlossen wird".
Doch diese Gewissheit gibt es nicht mehr. Die Zahlen über die aktuelle Situation auf dem griechischen Arbeitsmarkt sind entmutigend. Die erwerbsfähige Bevölkerung umfasst nach Angaben der griechischen Statistikbehörde 4,75 Millionen Menschen. 1,25 Millionen davon sind arbeitslos. Mehr als eine Million Beschäftigte erhalten ihren Lohn mit zwei- bis sechsmonatiger Verzögerung.
Laut einer Untersuchung des Forschungsinstituts des Dachverbands der griechischen Gewerkschaften GSEE haben 500.000 Beschäftigte nur noch ein Monatseinkommen von weniger als 346 Euro.
Gerade mal zehn Prozent der Arbeitslosen erhalten eine finanzielle Unterstützung von etwa 350 bis 450 Euro - und das für maximal ein Jahr. Von den Langzeitarbeitslosen, die länger als zwei Jahre erwerbslos sind, sind 73 Prozent im mittleren oder höheren Alter. In rund 350.000 griechischen Familien hat niemand mehr eine bezahlte Arbeit. Bei den jungen Erwerbsfähigen unter 25 ist einer von zweien überhaupt noch nie beschäftigt gewesen. Und mittlerweile ist es zweifelhaft, ob er oder sie es jemals sein wird, und falls doch, zu welchem Lohn.
Löhne unter Mindestlohn und Aussperrungen
Welchen Sinn hat es unter diesen Umständen noch, über Arbeitsrechte und Tarifverträge zu diskutieren? Es ist notwendig, denn das sind, neben der Liberalisierung des Energiesektors und der öffentlichen Haushalte, zentrale Themen bei der zurzeit laufenden Überprüfung des griechischen Sparprogramms durch die Vertreter der EU und des Internationalen Währungsfonds IWF. EU und IWF verlangen von der griechischen Regierung weitere Maßnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts.
Darunter fällt auch die Aufweichung des Kündigungsschutzes. Das betrifft die Zahl der zugelassenen monatlichen Kündigungen in einem Betrieb aus wirtschaftlichen Gründen. Bisher sind sie auf fünf Prozent der Beschäftigten beschränkt, jetzt sollen sie auf zehn Prozent angehoben werden. Hinzu kommen weiter sinkende Lohnniveaus, die unter dem Mindestlohn von 585 Euro für Berufseinsteiger liegen können und bei denen den Gewerkschaften die Tarifhoheit genommen werden soll, ebenso wie die Flexibilisierung der Arbeitszeiten.
Zudem soll das Streikrecht geändert werden: Streiks müssen beim Arbeitgeber künftig 20 Tage vorher angemeldet werden. Die Gewerkschaftsverbände sollen nicht mehr zu Streiks aufrufen dürfen. Stattdessen muss die Mehrheit der Beschäftigten des jeweiligen Betriebs für einen Streik stimmen. Weiterhin fordern die Gläubiger, dass Freistellungen für Gewerkschaftsarbeit reduziert und Aussperrungen als Arbeitskampfmaßnahme für Arbeitgeber eingeführt werden.
Völlige Deregulierung des Arbeitsmarkts
Selbst wenn morgen der beste Tarifvertrag unterzeichnet würde, könnte er unter diesen Bedingungen also kaum umgesetzt werden - allerhöchstens für eine minimale Anzahl von Beschäftigten oder ganz kleine Beschäftigtengruppen. Der Vorsitzende der GSEE, Jannis Panagopoulos, ein Gewerkschafter alter Schule, erklärt, es gebe in Europa grundsätzlich ein Verständnis für den Erhalt der Arbeitsrechte,nicht aber beim Internationalen Währungsfonds. Er sagt: "Die Arbeitgeberverbände setzen alle Hebel in Bewegung, damit die internationalen Institutionen Maßnahmen zur vollständigen Deregulierung des Arbeitsmarkts in Griechenland durchsetzen."
Die GSEE wäre erleichtert, wenn die Tarifverträge wieder in Kraft treten könnnten, die Frage nach ihrer Umsetzbarkeit bliebe jedoch weiterhin offen. Würden sie für viele Beschäftigte gelten oder wären sie nur auf einige Branchen beschränkt? Würden sie für Alte und Junge gleichermaßen gelten? Der Vorsitzende des Dachverbandes der Privatangestellten und Mitglied des Vorstandes der GSEE, Panagiotis Kyriakoulis, der zur neuen Generation der Gewerkschafter gehört, ringt um die richtigen Worte, wenn es um die aktuellen Bedingungen auf dem griechischen Arbeitsmarkt geht. "In diesem Umfeld, das nach vielen Jahren der Zerstörung entstanden ist, ist es schwierig etwas zu verbessern", sagt er schließlich, "selbst wenn wir morgen wieder freie Tarifverhandlungen führen könnten, um Tarifverträge durchzusetzen". Die Wiederherstellung des Gleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt werde Jahre dauern und "hängt von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung ab".