T.C. Boyle: Die Terranauten

Anfang der 1990er Jahre startete in den USA das Experiment Biosphäre 2 - eine Art Raumstation auf der Erde, in der acht Menschen zwei Jahre lang das Leben als Selbstversorger üben sollten; autark mit Tieren, Pflanzen, Regenwald und einem eigenen kleinen Ozean mit simulierten Gezeiten. Sogar der Sauerstoff wurde selbst produziert. Doch nach einem Jahr ging dem Projekt buchstäblich die Luft aus. Für T.C. Boyle war diese Geschichte erst der Anfang. Vier Männer, vier Frauen in freiwilliger Gefangenschaft - diese Konstellation fand er so interessant und erotisch aufgeladen, dass er das Projekt als Romanstoff erneut zum Leben erweckte.

Seine Geschichte hat drei Erzähler: die Nutztier-Expertin Dawn, den Kommunikationsoffizier Ramsay und Linda, die beste Freundin von Dawn, die ebenfalls Kandidatin für das Projekt ist, aber nicht zu den Auserwählten gehört und "draußen" bleiben muss. Damit offenbart sich schon der erste Konflikt, denn Linda macht zwar gute Miene zum bösen Spiel, betrachtet es jedoch als himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass man ihre hübsche Freundin ausgesucht hat und nicht sie, die Asiatin mit den paar Pfunden zuviel.

Doch Neid und Missgunst sind noch die geringsten Probleme, denen Boyle seine Terranauten während der folgenden zwei Jahre aussetzt. Neben zwischenmenschlichen Konflikten, die von kleinen Zickereien über sexuellen Notstand bis zu einem handfesten Skandal reichen, gibt es schon bald wirklich existenzielle Probleme wie Stromausfälle oder Sauerstoffmangel - Probleme, mit denen die Crew aus der wahren Geschichte ebenfalls zu kämpfen hatte. Boyle nimmt sich die Freiheit, jede Menge anderes Konfliktpotenzial dazuzuerfinden, wie etwa das autoritäre Leitungsteam des Projekts, das den künstlichen "Garten Eden" von außen überwacht und dessen Mitglieder ironisch nur Gottvater, Jesulein und Judas genannt werden. Typisch Boyle. Und während er lustvoll das menschliche Verhalten durchs Mikroskop betrachtet, stellt er so ganz lässig auch die große Fragen: Was zählt der Mensch im Universum? Und hat er es überhaupt verdient, zu überleben, wenn die Erde mal den Geist aufgibt?

Die Terranauten ist zwar nicht so brisant wie die Romane América oder zuletzt Hart auf hart, mit denen Boyle einer zutiefst gespaltenen US-amerikanischen Gesellschaft den Spiegel vorhält, aber er gräbt hier klug und tief in die menschliche Natur, und das auf sehr unterhaltsame Weise. Marion Brasch

CARL HANSER VERLAG, AUS DEM ENGLISCHEN VON DIRK VAN GUNSTEREN, 606 SEITN, 26 €


Jochen Rausch: Im Taxi

Jeder hat seine eigene Story. Jochen Rausch hat sie gesammelt, als Fahrgast in Taxis, kreuz und quer durchs ganze Land. Er hat zugehört, verdichtet, auf den Punkt gebracht. 120 Geschichtchen, jedes nur eine Seite lang, viele davon kleine Kunstwerke. Die Fahrer erzählen von ihrem Leben, ihren Träumen, Sehnsüchten und Hoffnungen. Sie politisieren, polemisieren, philosophieren und parlieren über das Menschlich-Allzumenschliche, das ihnen tagein, tagaus so begegnet. Das ist oftmals witzig, skurril oder einfach nur daneben. So wie der Frust, von zwei jungen Mädchen ausgeraubt zu werden, junge Jungs wären weniger schmählich gewesen. Oder der Kasache, der unbedingt in den Himmel kommen will - in den über Deutschland. Auch viel Mitgefühl ist zu hören, für Menschen, denen es schlecht geht. Jochen Rausch hat einen guten Riecher gehabt, einfach mal Leute reden zu lassen, die das pralle Leben bestens kennen. Mit diesen Storys hat er eine kleine Welt des Banalen und Besonderen erschaffen, das unseren Alltag so oft ausmacht. Das lässt sich gut auch zwischendurch mal lesen - auch im Taxi. Tina Spessert

BERLIN VERLAG, 128 S., 9 €


Hamid Sulaiman: Freedom Hospital

Bomben explodieren, Kugeln zerfetzen Körper, Blut spritzt. All das sieht man in dieser Graphic Novel. Man muss die Gewalt auch spüren, denn die Handlung spielt 2012 in Syrien. Der Illustrator Hamid Sulaiman, der 2011 aus seiner Heimat nach Paris flüchtete, zeigt jedoch auch einen geheimen friedlicheren Ort inmitten des Krieges: In einem unscheinbaren Gebäude betreibt die Pazifistin Yasmin ein Untergrund-Krankenhaus zur Versorgung verwundeter Rebellen. In diesem Freedom Hospital treffen unterschiedlichste Persönlichkeiten und Überzeugungen aufeinander: ein Spion, ein Arzt, der den Muslimbrüdern nahesteht, die vor den sunnitischen Eltern geflohene Köchin - Konflikte bleiben nicht aus. Und die Klinik wird immer wieder beschossen. Zum Team stößt die französische Journalistin Sophie, die eine Doku über das Krankenhaus und den Krieg drehen will. In düsteren schwarz-weißen Bildern dokumentiert Hamid Sulaiman Bombardements, Propaganda und Zerstörung. Aber eben auch die Aufbruchsstimmung rund um das Freedom Hospital, köstliche Joints, makabre Witze, Sex im Dunklen. Ein außergewöhnliches, aber auch erschütterndes Buch. Günter Keil

HANSER VERLAG, Ü: KAI PFEIFFER, 288 S., 24 €