Ausgabe 03/2017
Jede Sendung auf Adrenalin
Martina Helbing, genannt Tina, zimmert notfalls auch in Windeseile eine Sendung zusammen
Von Monika Goetsch (Text) und Renate Koßmann (Fotos)
Zwei winzige Studios, ein Büro, alte Sofas und Computer im Besprechungsraum und eine Kammer, in der sich Kisten voll geschenkter, gebrauchter und ersteigerter Sachen bis zur Decke stapeln: Alles wirkt improvisiert. Dabei sendet Radio Lora schon seit 1993, eine gefühlte Ewigkeit.
Drei Frauen sitzen an diesem lauen Frühlingsnachmittag mal auf einem der Sofas. Mal am Computer. Sie gehen den Ablaufplan für die nächste Sendung durch. Soll wirklich Musik gespielt werden während der Diskussionsrunde? Schafft man es, durchzukommen in der kurzen Zeit?
Eine der drei ist Martina Helbing, 59, genannt Tina. Eigentlich arbeitet Tina in einem EU-Projekt für Frauen, die wieder ins Berufsleben einsteigen. Es ist ihr sechster befristeter Vertrag in Folge. Als es noch Bleisatz gab, war sie Schriftsetzerin. Der Gewerkschaft trat sie 1976 bei.
Christiane Bihlmayer sorgt für die Musik, Günter Baur für die Technik
Radio macht sie ehrenamtlich. Und mit bewundernswerter Disziplin. Jeden zweiten Mittwoch im Monat produziert sie mit anderen ver.di-Frauen eine einstündige Sendung bei Lora. So entstanden Beiträge zu der Publizistin Hannah Arendt und zur Reform des Sexualstrafrechts. Zu den Gefahren durch Digitalisierung. Zu Altersarmut. Zu Zwangsprostitution. Und zu allem anderen, was sie persönlich interessiert. Sie holen Gewerkschafter aus München ins Studio und Gewerkschafter aus Berlin ans Telefon. Und wenn eine spannende Podiumsdiskussion stattfindet, zeichnen sie Passagen davon auf, um die Hörer und Hörerinnen daran teilhaben zu lassen
"Wir wollen aufklären und motivieren", sagt Tina. Der Fokus liegt auf Frauen. "Wo sonst haben unsere Kolleginnen mal eine Stimme?"
Auch der Taxifahrer hört sie
Noch zwei Stunden bis zur Aufnahme. "Das Gerede von der Alternativlosigkeit" steht diesmal ganz oben auf dem Ablaufplan, "gegen die Rhetorik von der Alternativlosigkeit und den Sachzwängen". Tina hat Stichwörter in Form einer Mindmap auf Karteikarten geschrieben, nur die erste und die letzte Frage sind ausformuliert. Dagmar Fries, 69, seit 2013 mit dabei, hält ein sorgfältig recherchiertes Manuskript in der Hand, das sie wörtlich ablesen wird. Und Christiane Bihlmayer, 57, ist mit einer CD von "Lawaschkiri" gewappnet. Sie sucht die Musik aus. Bloß kein Mainstream. Nichts, womit einen die Radios ohnehin von früh bis spät beschallen. Und, wichtig auch: lieber ohne Worte. Die Sendung selbst wird ja schon so viel Text haben. "Die Musik soll ein kleiner Kick zum Wachbleiben sein", sagt Christiane.
Dietmar Freitsmiedl, der Chef von Radio Lora, im "Technikkammerl"
Insgesamt 50 Vereine, Initiativen und Organisationen sind beim Bürgerradio dabei, 250 ehrenamtliche Mitglieder gehen in dem Hundert-Quadratmeter-Büro ein und aus, so Dietmar Freitsmiedl, der Chef von Radio Lora, der zum Gespräch ins "Technikkammerl" bittet, weil es da am ruhigsten ist. Oft wurde das Radio allgemein totgesagt. In letzter Zeit hat das Interesse allerdings wieder zugenommen. "Es gibt mehr Lust am Radio, aber für die Radiomacher auch viel mehr zu tun." Podcasts erstellen, über Facebook und Twitter auf Sendungen aufmerksam machen: Sie müssen sich auf vielen Kanälen auskennen. "Aber warum sollte man das Radiomachen den Profis überlassen? Lora versteht sich als Plattform der Zivilgesellschaft." 8.000 Menschen hören Radio Lora täglich. Kürzlich, im Taxi, erzählt Tina, lief Lora. "Man findet um die Zeit ja sonst nix Gescheites", sagte der Taxifahrer. Auch die Sendung der ver.di-Frauen kannte er. "Das freut einen immer", sagt Tina.
"Du musst auch Mut zu Lora haben"
Die ver.di-Frauen blättern in ihren Aufzeichnungen. Die Erkennungsmelodie der Sendung steht außer Frage. Es gab sie von Anfang an. Sie stammt von der Münchner Gruppe Zebulon und heißt "Tarantella". Der Tanz dient nicht nur der Wiedererkennung, sondern wird Dagmar auch erlauben, nach der Anmoderation lautlos aus dem Studio zu verschwinden. Das nämlich ist klein und geht zur Straße raus, weshalb man das Fenster nicht öffnen kann. Die Luft wird schnell etwas knapp darin. Wer nicht unbedingt rein muss, bleibt besser draußen. Zumal die neuen Mikrofone einfach zu gut darin sind, Geräusche zu übertragen, die sie nicht übertragen sollen, wie der Techniker Günter Baur sagt, sogar das Putzgerumpel im Stockwerk drüber wurde schon gesendet. "Da müssen wir was dran ändern." Fünf Stunden pro Woche sitzt er ehrenamtlich am Mischpult, spielt Jingles ein und Musik und prüft, ob das Computerprogramm die eingereichten Sticks mit den Sendungen auch wirklich lesen kann.
Dagmar Fries taucht tief in die Themen ein, ist immer gut präpariert
Viele produzieren inzwischen zu Hause, am eigenen PC. Dietmar Freitsmiedl mag diese Entwicklung nicht. "Man hört den Unterschied", sagt er. "Live im Studio - da ist eine Spannung drin, die man bei vorproduzierten Sendungen nicht findet."
Eine Spannung allerdings auch, für die man gute Nerven braucht. Es ist nämlich gar nicht so einfach, zuzuhören, die nächste Frage vorzubereiten, die Zeit im Blick zu haben. Und auch noch lässig zu klingen dabei. Tina, die Livesendungen liebt, sagt: "Du musst auch Mut zu Lora haben."
"Dann ist halt ein Äh drin"
Im November 2001, als für die ver.di-Frauen alles begann, war Tina sehr aufgeregt, jede Sendung setzt einen ja auf Adrenalin. Aber sie merkte rasch: Am Mikro war alles okay. Die Stimme machte mit, die Konzentration auch. Inzwischen ist sie Laie und Profi zugleich. Laie, weil sie das Radiomachen nur in ein paar Workshops gelernt hat. Profi, weil sie nun schon so lange Sendungen macht, jeden Monat eine. Noch nie fiel eine Sendung aus. Notfalls hat man halt etwas wiederholt. Tina sagt, sie habe schon in Windeseile Sendungen gezimmert, "auch kurzfristig geht was".
Gnädig sollte man mit sich sein, wenn mal etwas nicht klappt. Alle haben das schon erlebt: dass bei der Aufnahme einer Podiumsdiskussion das Mikro versagte. Dass man sich versprochen hat. Dass von zwei geladenen Gästen nur einer kam oder gar keiner.
Auch während der Sendung kann viel schiefgehen. Einmal war eine Datei nicht richtig abgespeichert. Die ver.di-Frauen standen schon an den Mikros, als der Techniker anzeigte, dass etwas nicht stimmte. "Das war ein Schlag in den Magen", sagt Dagmar, "mir ist fast schlecht geworden". Christiane dagegen setzte sich in aller Seelenruhe an den Rechner und speicherte die Datei neu ab, während der Techniker Musik einspielte. Sie schneidet auch manchmal noch kurz vor knapp ein paar Ähs raus, weil sie möchte, dass alles immer noch ein bisschen besser wird, während Tina findet: "Jo, dann ist halt ein Äh drin."
Natürlich bewundern die ver.di-Frauen all die gut ausgebildeten Radiojournalisten der öffentlich-rechtlichen Sender mit ihren schönen Stimmen, Männer und Frauen, die sich selbst zurücknehmen können, nachhaken, wenn es nötig ist, und immer verständlich rüberkommen. Andererseits haben die Radiomacher bei Lora eine andere Unbefangenheit. "Wir dürfen frecher sein, subjektiver", sagt Tina, "wir möchten die Gewerkschaft voranbringen. Und bekommen unsere kritischen Fragen auch beantwortet".
So individuell die Sendung ist, so individuell sind die Schwächen und Stärken der Frauen, die sie machen. Tina gibt zu: "Ich plappere manchmal zu viel. Beim Anhören hinterher, was ich selten tue, fällt mir auf, wie ich rumschnabbel. Statt kurz und knackig zu moderieren, drehe ich mich im Kreis." Dagmar sagt, sie werde von Tina dafür kritisiert, zu kopflastig zu sein für ein Medium, das man eher nebenbei hört, beim Kochen, beim Putzen, beim Autofahren. Sie ist eben besonders gründlich. Ihre Beiträge haben Dichte. Sie mag es, einzutauchen in ein Thema und richtig gut präpariert zu sein.
Aber auf alles kann sich kein Mensch vorbereiten, man ist ja nicht allein im Studio. Auf die Gäste kommt es an. Tina erinnert sich an eine Dame, der sie die Sätze aus der Nase ziehen musste. Zwanzig Minuten Gespräch waren geplant, es wurden aber nur zehn. "Und die waren langweilig."
So viele Möglichkeiten gibt es, Mist zu bauen. Geschenkt. Man macht einfach trotzdem weiter. "Mein Gott, wir sind keine Profis", sagt Tina, "ich finde es nicht schlimm, Fehler zu machen". "Radio Lora - Der Sender mit der kleinen Panne", so wirbt Lora schließlich für sich selbst.
Nur eine Stunde Sendezeit
Der Sendetermin rückt näher. Dagmar lutscht ein Halsbonbon. "Ich hab immer Manschetten, mit der Zeit nicht hinzukommen. Ich erkläre zu viel", sagt sie. Früher war das ihre Rolle, als Frauensekretärin bei ver.di. Seit sie vor vier Jahren bei Lora begann, soll sie fragen, nicht lehren. Spannend, findet sie. Eine Herausforderung, die sie gern annimmt, zumal sie zu ihrem größten Anliegen passt: den Frauen ein Forum zu geben.
Während der Sendung wird sie viel trinken, "sonst bleibt dir die Stimme weg". Auch Tina kommt auf einen guten halben Liter Wasser pro Sendung. Sie hat drei Gesprächspartnerinnen eingeladen und weiß: Zwei Stunden Sendezeit könnte sie mit ihnen füllen. Aber schon nach einer guten Dreiviertelstunde, um 19 Uhr 48, soll die Schlussrunde beginnen. Zur vermeintlichen Alternativlosigkeit in der Politik. Jeder Gast hat dann nicht ganz zwei Minuten, um seine Wünsche fürs Wahljahr zu äußern. "Wenn ich Glück hab', schaffe ich es, mich bei allen namentlich zu bedanken. Es ist nämlich grottendoof, wenn man nicht weiß, wer da spricht", sagt Tina.
Judith Amler wartet aufs Interview
Tatsächlich lohnt es sich, die Namen der Gäste in Erinnerung zu behalten, die gegen halb sieben bei Radio Lora eintrudeln. Denn die eingeladenen Frauen sind zwar ziemlich jung, aber allesamt meinungsstarke Rednerinnen, souverän, entschieden, klar im Kopf und in der Sprache. Da ist Astrid Séville, eine junge Politikwissenschaftlerin, deren Doktorarbeit zur sogenannten Alternativlosigkeit in der Politik viel Aufmerksamkeit erhalten hat. Außerdem Judith Amler von der globalisierungskritischen Nichtregierungsorganisation Attac und Bettina Rödig, Krankenschwester und in der ver.di Jugend aktiv.
Vorher noch ein bisschen Hustensaft
Astrid Séville ist erkältet. Ihre einjährige Tochter hat sie angesteckt. "Omannomannomann", sagt sie, als Tina im Vorgespräch erklärt, dass die Sendung live übertragen wird. Und: "Da zieh ich mir noch ein bisschen Hustensaft rein."
Tina hat den Namen geübt: "Séville. Séville." Es fällt ihr schwer. "Fremdsprachen kann ich nicht, ich krieg die Krise", sagt sie. Kürzlich kam ein Gast vom Diözesanverband. Das Gespräch war gut. Aber Di-ö-ze-san. Puh.
Tina erklärt den drei Frauen: "Ziel ist, dass sich die Leute engagieren." Sie erläutert den Ablauf. Die Gäste sind gebrieft, die Zeit läuft. Vor dem Reingehen ins Studio werden die Handys ausgeschaltet. Das hat nicht immer geklappt, einmal klingelte es mittenrein. Man lernt ständig dazu.
Dagmar geht ins Studio, an den Stehtisch. Vier dicke Mikrofone ragen an schwarzen Stangen von der Decke. Eine Glasscheibe trennt den Techniker vom Studio. Sie kündigt die Sendung an. Alles gut. Der Jingle läuft. Allgemeines Gelächter: Dagmar vergisst, beim Rausgehen den Kopfhörer abzusetzen und hängt am Kabel fest. Tina schiebt sich mit Astrid Séville durch die Tür. Souverän und humorvoll erklärt Séville dem Publikum, was es heißt, wenn es angeblich keine Alternative gebe zu den Entscheidungen der Politik. Sie entlarvt das Gerede als "Regierungstechnik" - und tut das so lebendig und klar, dass man sich um das Gelingen der Sendung nur zweimal Sorgen machen muss: um 19 Uhr 11 und um 19 Uhr 15, als sie heimlich in die eigene Ellenbeuge hustet.
Tina live im Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Astrid Séville und der Krankenschwester Bettina Rödig über Alternativen zur Politik
"Wir brauchen eine Debatte, die die Alternativen sichtbar macht", sagt Séville. Dann ist der erste Beitrag vorbei. Zwei Minuten früher als geplant. Nach der kurz eingespielten Musik kommen die beiden anderen Gäste sowie Christiane, die diesmal nicht als Radiomacherin, sondern als Stadtbüchereiangestellte sprechen wird. Dicht gedrängt stehen sie um die Mikros herum. Bettina erzählt von rassistischen Bemerkungen über Flüchtlinge, die Kollegen im Krankenhaus äußerten, und plädiert für mehr Solidarität. "Wenn man Solidarität spürt, gibt das unglaubliche Energie. Und die ist ansteckend", sagt sie. Judith von Attac findet, Bildungsarbeit müsse "von unten" gemacht werden. Christiane ermuntert alle Arbeitnehmer zu Engagement.
"Die sind gut, die jungen Frauen", sagt Dagmar auf der anderen Seite der Scheibe. "In meinem Alter ist es wichtig zu sehen: Irgendwo geht was weiter. In schwierigen Zeiten gilt Frauenpolitik als nicht so wichtig. Da muss man reinhauen und renitent werden." Sie würde gern Nachwuchs für die Radioarbeit gewinnen, "es wäre schön, wenn wir mehr wären".
Die Themen selbst aussuchen
Fröhliche Erleichterung, als während des nächsten Jingles alle aus dem Kabuff nach draußen drängen. "Das ist eine Sauna", scherzt Astrid Séville, "Saunaclub Lora". Jetzt ist noch mal Dagmar am Mikro, die ein Plädoyer hält für die Teilnahme an Betriebsratswahlen. "Fasst Euch ein Herz", schließt sie, "macht den ersten Schritt hin zu mehr Demokratie im Betrieb". Sie verliest ein paar Termine. Dann ist Schluss für diesmal.
Bettina verabschiedet sich, Frühschicht, sie muss um Viertel vor fünf aufstehen. Die anderen gehen noch zum Türken. Tina mag den Adrenalinschub, der die Sendungen immer noch begleitet. Und sie mag das Gefühl danach. Ein Bierchen oder Weinchen, zum Feiern. Das klingt so entspannt. Aber wenn man ein straffes Programm hat, kann auch Entspannung zu einer Frage der Disziplin werden.
"Tina tanzt auf vielen Hochzeiten", sagt Dietmar, der Radiochef. "Sie ist ein politisch denkender Mensch, und immer aktiv. Ich weiß auch nicht, wie sie das alles schafft."
Tinas Handy piept. Eine Freundin schreibt: "Wer immer es gehört hat - es war richtig gut..."
Es gibt kalte und warme Vorspeisen. Gelöste Stimmung. Astrid Séville, die Wissenschaftlerin, findet toll, dass man sich bei einem Bürgerradio selbst die Themen aussuchen kann. Judith Amler von Attac schätzt das ebenfalls. "Im Bürgerradio bekommt jeder eine Stimme. Das ist gut so. Weil jeder Mensch etwas zu sagen hat."
ver.di-Frauen "on air"
Einfach mal reinhören, auch außerhalb Münchens: Jeden zweiten Mittwoch im Monat senden ver.di-Frauen auf Radio Lora über UKW 92,4 oder im Kabel auf 96,75 MHz sowie im Livestream bei lora924.de von 19 bis 20 Uhr das, was andere Radiosender seltener bringen. Nämlich das, was Gewerkschafterinnen und auch Gewerkschafter interessiert. Auf der Website lora924.de gibt es auch ein Archiv mit bereits gelaufenen Sendungen.
"Wir dürfen frecher sein, subjektiver, wir möchten die Gewerkschaft voranbringen"
Tina Helbing