Henrik MÜLLER war viele Jahre Redakteur bei ver.di-Publikationen

Da muss nur das kapitalnahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln eine Pressemitteilung herausgeben, und schon meldet die ARD-Tagesschau: "In Deutschland zahlen 4,2 Millionen Arbeitnehmer auf ihr Einkommen den Spitzensteuersatz von 42 Prozent." Die meisten anderen Leitmedien verlieren völlig die Fassung und schreien Feurio: "Der Staat schröpft seine Bürger so stark wie nie zuvor" (Focus). Die FAZ mixt einfach die Sozialversicherungsbeiträge für Rente, Pflege etc. hinzu und behauptet: "Nicht nur die Spitzenverdiener müssen die Hälfte ihres Bruttoeinkommens an den Staat abgeben." Schließlich rührt die Magdeburger Volksstimme noch "EEG-Umlage, Stromsteuer, Fernseh-Zwangsabgabe, Tabaksteuer, Mehrwertsteuer" etc. in das Gebräu und kommt so "leicht auf einen Staatsanteil von über 70 Prozent schon beim Single mit mittlerem Einkommen".

Gegenüber solcherlei meist zielgerichtet inszeniertem Wirrwarr, der der Forderung nach massiven Steuersenkungen den Boden bereiten soll, scheinen Münchhausens Geschichten geradezu plausibel und klar strukturiert: Allein die zentrale Botschaft ("4,2 Millionen zahlen 42 Prozent") ist nämlich so, wie sie verbreitet wird, schlicht falsch. Die Betroffenen zahlen nicht "auf ihr Einkommen" den Spitzensteuersatz, sondern auf einen - oft nur sehr kleinen - Teil davon. Ein Beispiel: Ein gut verdienender Single muss bei einem Monatsbrutto von 4.500 Euro auf sein Jahreseinkommen von 54.000 Euro maximal 10.497 Euro Einkommensteuer (inklusive Soli) berappen, mithin 19,4 Prozent. Das ist gewiss eine ansehnliche Summe, aber eben nicht 42 Prozent, sondern weniger als die Hälfte. Und zu viel im Vergleich mit wirklichen Spitzenverdienern.

Aber ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem Durchschnittsverdienst von 49.915 Euro im Jahr bzw. 4.160 Euro im Monat zahlt nach Ermittlungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung lediglich 1,4 Prozent Einkommensteuer, also knapp 700 Euro im Jahr bzw. knapp 60 Euro im Monat. Wenn man einrechnet, dass 65 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten weniger als diese 4.160 Euro brutto verdienen, wird deutlich, dass der weitaus größte Teil der abhängig Beschäftigten im Lande von Steuersenkungen nach dem Gießkannenprinzip rein gar nichts hätte.