Ausgabe 04/2017
Wenn die Bahn nicht mehr kommt
20 Kilometer, 22 Stationen, eine Stunde Fahrtzeit - die Thüringer Waldbahn ist nicht nur bei Touristen beliebt
ver.di fordert eine Änderung des Personenbeförderungsgesetzes, um den Vorrang solcher Anbieter bei Ausschreibungen zu verhindern, die behaupten, den Nahverkehr ohne öffentliche Zuschüsse betreiben zu können – auf Kosten der Beschäftigten
Rund eine Stunde dauert die Fahrt mit der Thüringer Waldbahn von Gotha nach Bad Tabarz. An 22 Haltestellen stoppen die Straßenbahnen auf der rund 20 Kilometer langen Strecke, tagsüber wird die Linie 4 alle halbe Stunde bedient. Es ist eine Linie mit langer Tradition im Thüringer Wald und nicht nur bei Touristen ausgesprochen beliebt. Betrieben wird sie, wie auch drei Linien in der Stadt Gotha und eine weitere im Thüringer Wald, von der Thüringerwaldbahn und Straßenbahn Gotha (TWSB) mit ihren 76 Beschäftigten. Diese Tradition wollte der ortsansässige mittelständische Busunternehmer Wolfgang Steinbrück im vergangenen Jahr beenden.
Der Busunternehmer beantragte beim Landesverwaltungsamt die Liniengenehmigung für die fünf Strecken ab 1. Juli 2017 und versprach, der Landkreis werde dadurch drei Millionen Euro pro Jahr einsparen. Zudem werde er ohne öffentliche Zuschüsse auskommen und die Linien eigenwirtschaftlich betreiben - allerdings mit Bussen. Das hätte das Aus für die Straßenbahn bedeutet.
Auch die TWBS hätte abgewickelt werden müssen, Fördergelder, die in den Erhalt des Schienennetzes investiert worden waren, hätten zurückgezahlt werden müssen.
Zweifel an der Kalkulation
Der Protest in Gotha und Umgebung war groß. Schnell kamen mehr als 10.000 Unterschriften für eine Petition zum Erhalt der Waldbahn zusammen, 8.300 allein aus dem Landkreis. Anfang Oktober sprach sich der Kreistag Gotha gegen den Umstieg von Straßenbahnen auf Busse aus. Drei Wochen später lehnte das Landesverwaltungsamt den Antrag ab. Es bestanden Zweifel an der Kalkulation.
Ein Übernahmeversuch wie in Gotha ist bundesweit kein Einzelfall. Überall in der Republik drohen sogenannte eigenwirtschaftliche Anträge gewachsene und oft tariflich gesicherte Strukturen im öffentlichen Personennahverkehr bei öffentlichen und privaten Anbietern zu zerschlagen. 2013 hatte die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung das Personenbeförderungsgesetz dahingehend geändert, dass derjenige den Zuschlag bekommt, der zusagt, er könne die ausgeschriebenen Linien im öffentlichen Personennahverkehr ohne öffentliche Zuschüsse betreiben. Dass das in einem Bereich der Daseinsvorsorge möglich ist, bezweifeln Experten. Liegt ein solcher eigenwirtschaftlicher Antrag vor, gelten Tariftreuegesetze sowie Sozial- oder Umweltstandards im Vergabeverfahren für ihn nicht.
Von den Folgen der eigenwirtschaftlichen Vergaben sind in erster Linie die Beschäftigten betroffen. In Pforzheim hat Ende vergangenen Jahres die Bahn-Tochter Südwestbus den Stadtverkehr übernommen. Das bedeutete das Aus für das über 100 Jahre alte Unternehmen Stadtverkehr Pforzheim, 240 Beschäftigte verloren ihre Arbeit. Nur ein kleiner Teil von ihnen konnte bei Südwestbus anfangen, aber zu deutlich schlechteren Bedingungen. In Hildesheim kam ein eigenwirtschaftlicher Antrag einer anderen Bahntochter nur durch Verzicht der Beschäftigten des Stadtverkehrs Hildesheims nicht zum Zug. Ihre derzeitigen Gehälter werden für zehn Jahre festgeschrieben, Jahresurlaub, Jahressonderzahlung und Zeitzuschläge reduziert. Wer nach dem 1. Januar 2017 eingestellt worden ist, erhält einen abgesenkten Tarif.
Katastrophale Folgen
"Das ist Sozialdumping mit katastrophalen Folgen für die Beschäftigten und die Fahrgäste", kritisiert ver.di-Bundesvorstandsmitglied Christine Behle das Vorgehen. "Tarifgebundene Unternehmen werden durch deutlich niedrigere Personalkostenkalkulationen aus dem Wettbewerb gedrängt." Sie fordert Änderungen im Personenbeförderungsgesetz. Einen solchen Änderungsantrag hat der Bundesrat im Februar auch verabschiedet.
Während die SPD sich offen für Änderungen zeigt, spielt die Union auf Zeit. Doch die drängt. Bis Ende 2019 wird die überwiegende Mehrheit des öffentlichen Personennahverkehrs neu ausgeschrieben, sagt Mira Ball, die die ver.di-Fachgruppe Busse und Bahnen auf Bundesebene leitet. Die Gegner einer Gesetzesänderung würden oft aufgrund falscher Angaben argumentieren.
Dem Bundestag wurde im April ein Evaluationsbericht zu den Folgen der 2013 beschlossenen Gesetzesänderung vorgelegt. Darin stehe, sagt Ball, dass der Markt zugunsten kommunaler Unternehmen geschlossen sei und dass mittelständische Unternehmen von eigenwirtschaftlichen Anträgen profitieren könnten. Dies sei aber nicht der Fall. In den vergangenen Jahren sei der ÖPNV auf breiter Front liberalisiert worden. Jährlich würden drei bis vier Mal mehr Verträge offen ausgeschrieben als direkt an kommunale Unternehmen vergeben. Der Mittelstand sei zudem als Subunternehmer traditionell eingebunden. Kapazitäten zur Übernahme kommunaler Verkehre hätten nur Konzerne und größere Unternehmen.
Falsche Einrechnung von Fördergeldern
In Saarlouis sollte das Linienbündel 1 per Direktvergabe neu vergeben werden. Mit ihm machen die Kreisverkehrsbetriebe Saarlouis (KVS) zwei Drittel ihres Umsatzes. Die KVS selbst hatte einen eigenwirtschaftlichen Antrag eingereicht, um einem weiteren der Saar-Mobil GmbH, einem Zusammenschluss von fünf mittelständischen Unternehmen, etwas entgegensetzen zu können. Das Wirtschaftsministerium als Genehmigungsbehörde lehnte beide Anträge ab. Sie seien nicht plausibel, kritisiert wurde unter anderem die Einrechnung von Fördergeldern für den Schüler / innen-Transport. Also soll das Linienbündel per Direktvergabe bei der KVS bleiben. Saar-Mobil legte allerdings Widerspruch ein, der zuständige ver.di-Sekretär Christian Umlauf rechnet frühestens im Herbst mit einer endgültigen Entscheidung, von der die Arbeitsplätze von 180 KVS-Beschäftigten abhängen.
Gemeinsam mit dem Arbeitgeber hatte ver.di bei verschiedenen Aktionen gegen die eigenwirtschaftlichen Anträge mobil gemacht. Unterstützung kam auch vom Landkreis und parteiübergreifend von verschiedenen Politiker / innen. Letztendlich führte die Zustimmung der damaligen schwarz-roten Landesregierung des Saarlands zu der Mehrheit für die Annahme der Bundesratsinitiative zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes.
Der Einsatz ver.dis müsse jedoch auch im Saarland weitergehen, sagt Umlauf. Es stehen noch mehrere Vergaben an, darunter ein weiteres Linienbündel in Saarlouis, aber zum 1. November 2019 auch der landesweit größte Auftrag bei der Saarbahn. Sie betreibt in Saarbrücken Stadtbahn und Buslinien.
Eigenwirtschaftlicher Verkehr nicht machbar
Auch im niedersächsischen Oldenburg konnte die Übernahme des Busverkehrs verhindert werden. Dort wollte ebenfalls ein Zusammenschluss mittelständischer Unternehmen die Buslinien in der Stadt mit 160.000 Einwohnern übernehmen. Der bisherige Betreiber, die Verkehr und Wasser Gmbh (VWG), hatte daraufhin auch einen eigenwirtschaftlichen Antrag eingereicht, ihn aber wieder zurückgezogen, als in einem von ihm beauftragten Gutachten festgestellt wurde, dass die Verkehre in Oldenburg nicht eigenwirtschaftlich zu finanzieren seien. Dieser Ansicht schloss sich Ende April auch die zuständige Genehmigungsbehörde an.
Die Politik ist gefragt
Damit sind die Arbeitsplätze der rund 300 Beschäftigten erst einmal gesichert, zu den bisherigen Bedingungen. Erst im vergangenen Jahr war es ver.di gelungen, neueingestellte Fahrer / innen aus der VWG-Tochter Nordbus zur Mutter zu überführen, weitgehend zu deren besseren Bedingungen und mit betrieblicher Altersversorgung, sagt Hermann Hane, im ver.di-Landesbezirks Niedersachsen-Bremen für die Fachgruppe Busse und Bahnen zuständig. Auch wenn eventuell noch eine Entscheidung einer weiteren Instanz über den Widerspruch des unterlegenen Zusammenschlusses ansteht, sei die Stimmung unter den Beschäftigten entspannt. Dazu beigetragen habe, dass ver.di, der Betriebsrat und der Arbeitgeber die Beschäftigten bei der VWG immer transparent über das Verfahren auf dem Laufenden gehalten haben. "Die Kolleginnen und Kollegen sind sensibilisiert", sagt Hane, und das im gesamten Landesbezirk.
ver.di habe es geschafft, die Folgen des 2013 geänderten Personenbeförderungsgesetzes zu einem politischen Thema zu machen, sagt Mira Ball. Durch die Entscheidungen in Pforzheim und Hildesheim würden Beschäftigte wie auch Kommunen und Genehmigungsbehörden genauer hinschauen. Gefragt ist jedoch die Politik. ver.di-Bundesvorstandsmitglied Christine Behle forderte CDU und CSU auf, ihre Blockadehaltung aufzugeben und die Korrektur des Personenbeförderungsgesetzes zu unterstützen. Nur so könnten Arbeitsplatz- und Lohnverlust verhindert und der qualitativ hochwertige Nahverkehr gesichert werden.