Frank Bsirske

ver.di publik - Du hast Ende Mai in Ankara Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter getroffen. Wie ist ihre Lage?

Frank Bsirske - Nach dem Referendum hat sich die Lage deutlich verschlimmert und es wird willkürlich gegen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter vorgegangen. Mittlerweile sind über 100.000 Menschen im öffentlichen Dienst suspendiert oder entlassen worden. Zum Teil ohne zu wissen, was ihnen vorgeworfen wird. Zum Teil - wenn Begründungen geliefert worden sind - wegen Postings in den Sozialen Medien, zum Teil, weil sie kritische Zeitungen lesen würden, zum Teil nach Demonstrationen. Der Dachverband KESK, der die Gewerkschaften für den öffentlichen Dienst organisiert, ist von Repressionen am stärksten betroffen. Aber auch DISK- und TÜRK-iS-Mitglieder sind betroffen. Laut Gesetz müsste bei Suspendierungen in drei Monaten entschieden sein, wie verfahren wird. Aktuell gibt es viele Kolleginnen und Kollegen, die auch nach sieben Monaten weder eine positive noch eine negative Nachricht haben. Entlassenen und Suspendierten wird nicht nur der Reisepass entzogen, sie haben auch keinerlei Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Ihnen werden im Grunde die Lebensgrundlagen regelrecht entzogen.

ver.di publik - Im Fokus der türkischen Regierung stehen immer wieder auch Medienschaffende.

Bsirske - Mir wurde berichtet, dass seit dem Putschversuch 33 Fernsehsender, 36 Radiostationen, 62 Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen, 29 Verlagshäuser und Distributionskanäle geschlossen worden sind. 3.000 Journalistinnen und Journalisten haben ihren Job verloren, und nur 100 von ihnen haben eine neue Arbeitsstelle in der Branche gefunden. Insbesondere die kritischen Medien stehen massiv unter Druck. Unlängst wurden zwei Journalisten der größten Zeitung des Landes, Sözcü, verhaftet. Aus Protest ist die Zeitung dann weiß erschienen, also ohne einen einzigen Buchstaben. Wobei von dieser weißen Zeitung 500.000 Exemplare verkauft wurden. Was ein Indiz dafür ist, dass viele Menschen mit diesen Repressionen nicht einverstanden sind und dagegen aufbegehren.

ver.di publik - Wie reagiert die türkische Journalistengewerkschaft?

Bsirske - Sie versucht systematisch, Prozessbeobachter zu stellen und die Prozesse zu beobachten. Mir wurde von einem Prozess berichtet, in dem 21 Journalisten vor dem Referendum angeklagt gewesen waren und freigesprochen wurden, aber alle 21 wurden nach dem Referendum wieder verhaftet. Und auch die Richter, die das Urteil gesprochen haben, und der Staatsanwalt sind mit verhaftet worden, nachdem ein regierungsnaher Journalist ihnen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation vorgeworfen hatte. Das ist natürlich nicht nur ein Signal in Richtung Einschüchterung von Journalisten, sondern auch in Richtung Justiz. Wir haben es mit einer Situation zu tun, in der die Meinungsfreiheit echt bedroht ist und offene Einschüchterung praktiziert wird. Mittlerweile sind rund 160 Journalisten in Haft, wie übrigens auch viele Gewerkschaftsfunktionäre.

ver.di publik - Was können wir tun angesichts der Verhältnisse dort in der Türkei und der Situation der Gewerkschaften?

Bsirske - Es ist wichtig, Fehlentwicklungen im Land öffentlich zu machen, die Situation unserer Kolleginnen und Kollegen in den verschiedenen türkischen Gewerkschaften publik zu machen, sodass nicht verborgen bleibt, unter welch schwierigen Bedingungen in der Türkei gegenwärtig gewerkschaftlich gearbeitet wird. Die Journalistengewerkschaft hat es für sich als zentrales Motiv formuliert, dass, wenn die Presse schweigt, dies das Ende der Demokratie ist. Sie kämpfen um das Recht auf freie Presseberichterstattung, auch unter diesen schwierigen Bedingungen des Bedrohtseins. Wenn es zu einer Anklage gegen Deniz Yücel kommt, dann sollten wir von unserer Seite auch für eine Prozessbeobachtung sorgen. Er ist ein ver.di-Kollege, der seit über 100 Tagen in Einzelhaft sitzt, ohne bislang zu wissen, was ihm konkret vorgeworfen wird.

ver.di publik - Also vor allem Öffentlichkeit herstellen?

Bsirske - Ja. Und alle drei Gewerkschaftsdachverbände waren sich einig, dass der Ausnahmezustand beendet werden muss. Weil der Ausnahmezustand die Handhabe bietet, auch Streiks einfach zu verbieten wegen Beeinträchtigung der Nationalen Sicherheit. Und: Ich will den Glauben an die Rechtsstaatlichkeit nicht aufgeben.

Interview: M. Kniesburges