Demonstration gegen Gewalt am 3. Oktober in Barcelona

Wie sieht Europas Karte morgen aus? Am 10. Oktober erklärte Kataloniens Präsident Carles Puigdemont die Unabhängigkeit der autonomen Gemeinschaft im Nordosten Spaniens mit 7,5 Millionen Einwohnern - und auch wieder nicht. Der Vollzug bleibt vorerst ausgesetzt. Das Recht, "Katalonien in einen unabhängigen Staat in Form einer Republik" zu verwandeln, leiten die Initiatoren aus dem Ausgang des Referendums ab. 90 Prozent der mehr als zwei Millionen Teilnehmenden stimmten mit Ja. Doch das Gewicht dieser Stimmen ist eher symbolisch. Madrid hatte die Abstimmung verbieten lassen, Nationalpolizei und Guardia Civil gingen gewaltsam gegen Wählerinnen und Wähler vor. Hunderte Verletzte waren die Folge. Die brutalen Szenen wecken Erinnerungen an die Diktatur von General Franco (1939 - 1975). Der Umgang mit dem Konflikt entzweit die Spanier, auch in Katalonien selbst sind die Meinungen zur "Independencia" geteilt.

Rückbesinnung

Der katalanische Separatismus speist sich aus mehreren Quellen. Die Rückbesinnung auf Nation und kulturelle Identität begann schon im 19. Jahrhundert. Im Geschichtsbewusstsein der Katalonen ist verankert, dass hier die Zweite Spanische Republik im seit 1936 tobenden Bürgerkrieg ihre letzte Bastion hatte. Nach dem Sieg der Putschisten, die die Unterstützung von Hitlers Deutschland, Mussolinis Italien und Salazars Portugal hatten, verlor die Region ihre bis dahin bestehende Autonomie. Tausende Republikaner wurden hingerichtet.

Mit der konservativen Volkspartei (PP) regieren im heutigen Spanien die Nachfolger der rechten Nationalisten. Nach der Rückkehr zur Demokratie wurden Madrid auch für Katalonien Autonomierechte abgehandelt. Doch 2010 klagte die Partei von Ministerpräsident Mariano Rajoy ein erweitertes Statut für die Region weg. Von dort kam auch besonders stark der Widerstand gegen das 2015 beschlossene "Maulkorbgesetz", das der Polizei Freibriefe ausschreibt und sozialen Protest mit hohen Strafen bedroht. Der Zulauf für das Unabhängigkeitsprojekt in den letzten Jahren hat auch mit Spaniens Krise und der darauf folgenden Kürzungspolitik zu tun.

Anders als bei den erfolglosen Referenden über die Unabhängigkeit in Schottland 2014 oder 1995 im kanadischen Quebec zeigt sich in Spanien die übergeordnete Staatsinstanz unnachgiebig. Die Volkspartei (PP) hält am zentralistischen Staatsverständnis fest, möchte mit Nationalgefühl punkten und autoritär durchregieren. Die Konfrontation lenkt die Öffentlichkeit von den Verfahren zu dem riesigen Korruptionsskandal ab, in den Parteigrößen verwickelt sind. Ihr Fraktionschef im katalanischen Parlament, Xavier García Albiol, wirft der Puigdemont-Regierung "nie dagewesenen Irrsinn" vor. In deren Unterstützung des von vier regionalen Gewerkschaften organisierten Generalstreiks am 3. Oktober - eine Reaktion der Massen auf die Polizeigewalt beim Referendum - sieht er "den tollkühnen Versuch, eine Revolution anzustiften".

Mehrheit für Dialog

Damit traut er der in Katalonien seit 2016 mit knapper Mehrheit regierenden liberal-linksrepublikanischen Koalition Junts pel Sí zu viel zu. Anders als deren Stützpartei, der CUP, die vom Aufbau einer neuen Gesellschaft träumt: sozialer, demokratischer, dem Frieden verpflichtet. Die Opposition in Katalonien beansprucht für sich die "schweigende Mehrheit".

Eine klare Mehrheit hingegen gibt es in ganz Spanien für den politischen Dialog. Dafür werben auch die größten Gewerkschaften des Landes. UGT-Chef Pepe Álvarez fordert Puigdemont und Rajoy zu direkten Gesprächen auf. Der Konflikt schade Katalonien wie Spanien und zugleich "allen Arbeitenden dieses Landes". Die einseitige Unabhängigkeitserklärung aus Barcelona lehnt die den Sozialisten (PSOE) nahestehende Organisation ab. Die Arbeiterkommissionen (CCOO) als zweite große Zentrale warnen vor einer Verschärfung des Konflikts und seinen ökonomischen und sozialen Folgen. Der Konflikt sei auch ein institutionelles Problem. Verhandelt werden müsse auch über einen "neuen Rahmen für die Selbstverwaltung von Katalonien". Peter Steiniger