"Deutschland geht es gut" ist eine zynische Parole

"Deutschland geht es gut", erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, im Interview des Wochenmagazins "Superillu" am 12. September - des Jahres 2013. Schon damals warb sie mit dieser Parole für die Fortsetzung der damaligen christlich-liberalen Regierungskoalition. Im September 2017 wollten CDU und CSU Kontinuität demonstrieren und verkündeten weiterhin die frohe Botschaft: "Deutschland geht es gut." Wer diese Sichtweise nicht zynisch nennen will, muss wenigstens einräumen, dass sie mit der Lebenswirklichkeit von vielen Millionen Menschen nichts zu tun hat.

Seit Jahren pfeifen es doch die berühmten Spatzen von den Dächern, dass die soziale Ungleichheit weltweit, aber auch hierzulande in Riesenschritten wächst. Zum Jahresende 2016 berichtete das Statistische Bundesamt allein von 7,9 Millionen Menschen, die soziale Mindestsicherungsleistungen erhielten: knapp sechs Millionen müssen unter den unwürdigen Bedingungen des Hartz-IV-Regimes leben, gut eine Million von der Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung, 133.000 von Sozialhilfe. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz wurden 728.000 Flüchtlinge unterstützt.

In der vorigen Ausgabe berichtete ver.di publik an dieser Stelle von 2,7 Millionen Beschäftigten, die "nebenbei" noch mindestens einen Minijob auf sich nehmen, um über die Runden zu kommen. Und von 950.000 Rentner/innen, die weiter arbeiten gehen müssen, weil viele von ihrer Rente nicht leben können. Hinzu kommen etliche Millionen vor allem Jüngere in Deutschland, die unter "prekären" - im Klartext also: beschissenen - Bedingungen arbeiten müssen, als Leiharbeiter, in willkürlich befristeten Jobs, und das zu Niedriglöhnen, die oft nicht bis zum nächsten Ersten reichen.

Deshalb auch steigt die Zahl der Bürger/innen, die als "überschuldet" gelten: 6,9 Millionen sind es derzeit laut FAZ von Ende November. Sie können ihre Miete, ihre Telefonrechnungen oder fällige Kreditraten nicht mehr bezahlen. Häufigste Ursachen laut FAZ: Arbeitslosigkeit, Einkommensarmut, Erkrankungen - Umstände also, für die die Betroffenen selber kaum verantwortlich sind. Von atemberaubend ansteigenden Mietkosten und drohender Altersarmut durch drastisch sinkende Renten ist bei alledem noch gar nicht die Rede. Sieht so ein Land aus, dem es "gut geht", gut wie nie zuvor?

Wie kommt es, dass die Kanzlerin und ihre Christen-Union ihre realitätsferne Propagandaformel seit vielen Jahren in aller Öffentlichkeit zum Vortrag bringen dürfen, ohne millionenfachen Widerspruch und heftige Stürme des Protests zu ernten? Zumal gleichzeitig auf der anderen Seite der Medaille, in der Welt der Reichen und Schönen, die Wohlhabenheit in teilweise irrwitzigem Tempo anschwillt. Trotz niedrigster Guthabenzinsen ist laut Bundesbank auch im ersten Halbjahr 2017 allein das private Geldvermögen in Deutschland um 1,5 Prozent oder 84 Milliarden Euro gewachsen - auf einen neuen Rekordwert von unvorstellbaren 5.723 Milliarden Euro.

Und damit liegt unser Land im weltweiten Pro-Kopf-Vergleich nur auf Platz 18. Aber mit einem Bruchteil davon ließen sich vermutlich alle Probleme der Menschheit nicht nur hierzulande, sondern weltweit lösen, soweit das mit Geld zu bewerkstelligen wäre. Wer solcherlei Überlegungen als Hirngespinste eines unverbesserlichen Weltverbesserers abtut, will erst gar nicht darüber nachdenken, warum die Welt zunehmend in einen besorgniserregenden Zustand gerät und was die wichtigsten Ursachen für Terror und andere kriegerische Auseinandersetzungen sind. Nur der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika bestreitet noch, dass der Kampf gegen den Klimawandel inzwischen eine "Überlebensfrage der Menschheit" (Angela Merkel) ist. Aber die Zeitbombe "Soziale Ungleichheit" ist von ähnlicher Brisanz, ihre Entschärfung von gleicher Dringlichkeit.

Dazu muss die Politik die sozialen Ungerechtigkeiten aber überhaupt erst einmal in ihrer vollen Dimension zur Kenntnis nehmen und darf sie nicht weiter unter den Teppich kehren. Letzteres nämlich haben in Deutschland die Parteien der Agenda 2010, auch SPD und Grüne, im Verein mit den meisten Medien in den Wahlkämpfen des Jahres 2017 mehr oder minder konsequent getan.

Noch ist das Jahr nicht zu Ende, noch besteht Gelegenheit, die sozialpolitischen Themen auf den Tisch zu packen bei Gesprächen über Varianten einer Regierungsbildung. Am besten unter Einbeziehung von zivilgesellschaftlichen Kräften wie Gewerkschaften, Sozialverbände und Kirchen. Die sind meistens näher an den Menschen, um die es geht.

Sieht so ein Land aus, dem es "gut geht", gut wie nie zuvor?