Der große Bluff

Kleider machen Leute. Aber Robert Schwentkes Filmgroteske kommt mitnichten so harmlos daher wie Gottfried Kellers berühmte Novelle und hat sich - das möchte man gar nicht glauben - tatsächlich zugetragen. Die abstruse Geschichte beginnt im April 1945, kurz vor der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht mit Bildern von großer Atemlosigkeit. Herold, ein junger Soldat, ist auf der Flucht. Nur knapp entkommt er seinen Verfolgern, aber warum ihn ranghöhere Offiziere gejagt haben, bleibt offen. Vermutlich wollte er desertieren wie jener Robert, den der blutjunge Götz George in Wolfgang Staudtes 1960 gedrehtem Schwarzweißfilm Kirmes spielt, an den die ersten Szenen erinnern.

Tatsächlich fühlt man auch mit Herold mit, wie er sich so verdreckt und voller Angst im Unterholz versteckt, als einer sympathisch erscheinenden Figur - zunächst. Als er auf der Rückbank eines abgestellten Fahrzeugs zufällig die Uniform eines Hauptmanns findet, ist das seine große Chance. Der Glückspilz muss nicht lange üben, um sich nach dem Kleidertausch glaubwürdig wie ein Hauptmann aufzuspielen. Jedenfalls hat Freytag, ein ebenfalls von seiner Einheit Getrennter, der ihm kurz darauf über den Weg läuft, sofort Respekt vor dem Hochstapler und führt seine Befehle aus. Mit noch weiteren Versprengten, darunter dem aggressiven Kipinski, kann sich Herold alsbald eine Leibgarde aufbauen. Aber weniger seine Kameraden als vielmehr seine Bauernschläue bewahren den Filou davor, dass der Schwindel auffliegt.

In einem Strafgefangenenlager, in das er nach einer Kontrolle mit seiner Kampftruppe beordert wird, gelingt dem Gerissenen sein größter Bluff. Er täuscht nicht nur den Sonderbeauftragten des Justizministeriums, der ihm nach anfänglicher Skepsis tatsächlich abnimmt, dass er im Auftrag des Führers einen Bericht über die Lage an der Front verfassen soll, sondern auch den Kinozuschauer. Denn als sich der harmlose Schelm plötzlich als ein monströser Sadist zu erkennen gibt, der die Pläne der anderen SS-Oberen mit seinen abscheulichen Verbrechen noch überbietet, wird aus der skurrilen Köpenickiade ein knallhartes Drama über die Barbarei des Krieges. Als erster Regisseur überhaupt erzählt Robert Schwentke eine in der NS-Zeit angesiedelte Geschichte aus der Perspektive des Täters und macht es dem Publikum mit seiner bitteren Pointe absichtlich schwer.

Brutaler lässt sich die Illusion, ein Soldat der deutschen Wehrmacht habe seine neu gewonnene Überlegenheit nutzen wollen, um Anderen in Not zu helfen, nicht zerstören. Kirsten Liese

D, F, P 2017. R: ROBERT SCHWENTKE. D: MAX HUBACHER, MILAN PESCHEL, FREDERIK LAU, U .A., 119 MIN., KINOSTART 15. MÄRZ 2018


Molly's Game

"Eine Prinzessin hätte wohl kaum geschafft, was ich erreicht habe", blafft Molly Bloom ihren Anwalt an. Der kann sich nicht vorstellen, die aufgeflogene "Poker-Princess", wie die Medien sie nennen, nach ihrem Fall zu vertreten. Das elektrisierende Pokerdrama entführt in eine kalte, glamouröse Parallelwelt, in der Geld keine Rolle spielt. Wirkliche Kicks sind im dekadenten Mikrokosmos einer patriarchalen Gesellschaft nur noch am Pokertisch zu holen. Den von Männern beherrschten Kosmos, angefangen vom Börsenhai bis hin zum Hollywood-Superstar, dirigiert Poker-Prinzess Molly Bloom. Kühn organisiert sie die exklusivsten Zocker-Runden. Millionen fließen. Ihre feinnervige Sensibilität, gepaart mit kühlem Intellekt, verleiht dem fulminanten Regiedebüt von Drehbuchautor Aaron Serkin unwiderstehliches Charisma. Die infernalische Tour de Force voller rasanter Dialoge und erhellender Rückblenden fasziniert. Besonders die verbalen Scharmützel mit Idris Elba als ihrem Anwalt geben Einblick in die Grenzen weiblicher Macht. Inspiriert von der wahren Geschichte Molly Blooms, deren pikante Memoiren weltweit für Furore sorgten, zeigt sich, wer am Ende gewinnt. Luitgard Koch

USA, KANADA 2017. R: AARON SERKIN D: JESSICA CHAISTON, IDRIS ELBA, MICHAEL CERA, KEVIN COSTNER U. A., 133 MIN., KIN0START 8. MÄRZ 2018


I, Tonya

Den dreifachen Axel, einen der schwierigsten Sprünge im Eiskunstlaufen, steht sie souverän als eine der ersten Frauen. Aber zur verhassten "Eishexe" wird Tonya Harding über einen unfassbaren Skandal. Die Geschichte der US-amerikanischen Athletin erscheint so derart verrückt, dass sie sich nur als rabenschwarze Satire rekapitulieren lässt. Das ungebildete, mittellose Mädchen der Unterschicht hat mit seiner burschikosen Ausstrahlung und selbst genähten unvorteilhaften Kostümen bei Meisterschaften einen schweren Start. Von der Rabenmutter körperlich schwer misshandelt, flieht die sich trotz aller Widrigkeiten an die Weltspitze kämpfende Tonya paradoxerweise in die Arme eines brutalen Volltrottels, der sie fast zu Tode prügelt und ihr mit dem aufsehenerregenden Attentat auf ihre Teamkollegin Nancy Kerrigan kurz vor Olympischen Winterspielen ihre Karriere versaut. Ob Tonya eine schuldige Mittäterin war, bleibt offen. Ausgehend von Interviews mit vielen Beteiligten vermitteln sich die Ereignisse widersprüchlich aus unterschiedlichen Perspektiven: die Wahrheit ist schwer zu finden. Als eine Darstellerin, die diverse Küren ihrer Heldin fast ohne Double nachläuft, setzt die großartige Margot Robbie diesem urkomischen, unglaublichen Film das Sahnehäubchen auf. Kirsten Liese

USA 2017. R: CRAIG GILLESPIE. D: MARGOT ROBBIE, SEBASTIAN STAN, ALLISON JANNEY U. A., 119 MIN., KINOSTART 1. MÄRZ 2018