Henrik Müller war viele Jahre Redakteur bei Gewerkschaftszeitungen

„Das alte Parteiensystem ist Geschichte. Das liegt an der SPD. Die Partei ist tot. Sie hat es nur noch nicht bemerkt“, verkündet im Mai 2018 Jakob Augstein, meinungsfreudiger Miteigentümer des Nachrichtenmagazins Der Spiegel und Eigentümer, Geschäftsführer, Verleger sowie Chefredakteur der Wochenzeitung Freitag, die sich selbst „Das Meinungsmagazin“ nennt. Die Sozialdemokratische Partei, vor mehr als 150 Jahren entstanden als politischer Arm der deutschen Arbeiterbewegung, ist am Ende und hat es „nur noch nicht bemerkt“?

Millionen Liter Herzblut, Schweiß und Tränen also umsonst vergossen? Die Hoffnungen von Generationen abhängig Beschäftigter auf eine bessere Zukunft und ein schöneres Leben: alles für die Katz? Etliche aktive Gewerkschafter/innen geben auf die Sozialdemokratie als parlamentarisch-politische Vertretung schon lange keinen Pfifferling mehr, nachdem die Verbindungen über Jahrzehnte übermäßig eng gewesen waren. Aber es gibt auch in Zeiten der Einheitsgewerkschaft viele Kolleg/innen, denen solcherlei Läuten der Sterbeglocke für die SPD große Sorgen bereitet.

Vielleicht sollten wir zu Augsteins bürgerlich geprägter Diagnose noch eine Zweitmeinung einholen. Gewiss liegt der Publizist richtig mit seiner Analyse, dass insgesamt „die deutsche Linke so was von zerstreut“ ist, dass sie „glatt vergessen hat, wo der Gegner steht“. Sie sei schwach und kümmere sich in ihrer Schwäche vor allem um sich selbst. Aber im gleichen Atemzug teilt der Spiegel-Erbe auch schon wieder aus – nach links, etwa gegen den Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert, einem der intellektuellen Vordenker der parteiinternen Opposition, der „doch nur seine liebe alte SPD wiederbeleben“ wolle.

Aber das wäre doch vielleicht nicht einmal die schlechteste Idee. Nach einer Wiederbelebung alter sozialdemokratischer Werte sehnen sich nämlich viele Mitglieder der Partei, wenn nicht gar eine Mehrheit. Diese Sehnsucht hat sich beim Parteitag im April, als Andrea Nahles – eher lustlos als euphorisch – zur Vorsitzenden gewählt wurde, zwar nicht Bahn brechen, wohl aber kräftiger artikulieren können als erwartet. Und zwar in Person von Nahles‘ Gegenkandidatin, der gelernten Kriminalpolizistin und heutigen Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange, die mit ihrer Bewerbungsrede eine sozialdemokratische Politik für das 21. Jahrhundert skizziert hat, die auf die mit der Agenda 2010 verlorengegangenen Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität baut.

Mit ihrer Forderung nach einer Rückbesinnung „auf unseren Auftrag, die soziale Frage ins Zentrum unserer Debatte zu stellen“, konnte die im thüringischen Rudolstadt geborene und aufgewachsene Politikerin die Stimmen von einem knappen Drittel der wahlberechtigten Delegierten auf sich ziehen. Und zwar auch und gerade mit ihrer vernichtenden Bewertung von 15 Jahren Agendapolitik. Sozialdemokraten hätten Millionen von Menschen enttäuscht, auf „deren Rücken sich Deutschlands Stabilität aufgebaut“ habe, und „dabei in Kauf genommen, dass sie heute in Armut leben, obwohl sie Arbeit haben. Dafür möchte ich mich bei den Menschen, die es betrifft, entschuldigen.“

Wer diesen Hintergrund kennt, darf Langes Stimmergebnis durchaus als politischen Erdrutsch bewerten. Wie bereits auf dem Sonderparteitag im Januar 2018, als nur eine ganz knappe Delegiertenmehrheit der Aufnahme von neuen Koalitionsverhandlungen mit der Union ihren Segen erteilte, hat sich hier ein gesellschafts- und sozialkritisches Potenzial zu Wort gemeldet, das die Chance verdient, in den kommenden Monaten Wurzeln zu schlagen und Verästelungen zu bilden. Die „zerstreute“ und die organisierte Linke sollten nicht argwöhnisch auf dieses sozialdemokratische Potenzial herabschauen und nicht leichtfertig darauf verzichten.

Wer es ernst meint mit der Absicht, die soziale Frage ins Zentrum der Debatte zu rücken, muss endlich die einenden Ziele nach vorne stellen und die trennenden hintan. Die zivilgesellschaftlichen Kräfte wie die Gewerkschaften, die Sozialverbände, kirchlichen Institutionen, Bürgerinitiativen, Umweltorganisationen, die die Interessen einer großen Mehrheit der Menschen formulieren und artikulieren, brauchen endlich die Aussicht auf eine parlamentarische, eine gesetzgeberische Mehrheit, um eine bessere Zukunft und ein schöneres Leben für alle zu ermöglichen; eine Mehrheit, die bereit ist, das menschenverachtende Hartz-IV-Regime als Grundlage vielerlei Übels abzuschaffen und letztlich die gesamte Agenda 2010 rückabzuwickeln. Das geht vermutlich nur mit der Sozialdemokratie, nicht gegen sie.

Auf die Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bauen