Alice kommt beruflich nicht voran. Schon seit geraumer Zeit bemüht sich die 39-Jährige um eine Stelle in einer Online-Redaktion, aber obwohl sie am laufenden Band Bewerbungen schreibt, erhält sie immer nur Absagen. Trotzdem lässt sie sich nicht so leicht entmutigen. Sie zählt nicht zu denen, die nach Misserfolgen frustriert alles hinwerfen oder zur Flasche greifen, sie bewahrt sich vielmehr tapfer ihre Motivation. Aber so unermüdlich sich die kinderlose Single-Frau auch in die Jobsuche einbringt, ergeht es ihr nicht anders als den Verlierern in dem Spiel Reise nach Jerusalem, der diesem Debütfilm seinen Titel gibt: Sie findet sich nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Was auch immer sie anstrengt – immer läuft irgend etwas schief, und wenn es nur die Internetverbindung ist, die während einer wichtigen Konferenz via Skype zusammenbricht. Realitätsnah und sehr bewegend schildert Regisseurin Lucia Chiarla am Beispiel ihrer Heldin, wie schnell auch gut ausgebildete Menschen arbeitslos werden können und trotz Willens und Fleißes in eine Abwärtsspirale geraten.

Das fängt damit an, dass Alice eine langweilige Weiterbildungsmaßnahme abbricht, als der Ausbildungsleiter sie wegen Nichtigkeiten demütigt. Im Zuge dessen streicht ihr das Amt die Stütze, die finanziellen Reserven werden knapp. Zwar gelingt es der erfinderischen Frau, sich mit Notlügen etwas Spielraum für ihre Mietzahlung zu verschaffen und ehemaligen Kollegen eine falsche Existenz als Selbstständige vorzugaukeln. Aber die Armut macht sie zunehmend einsam. Nicht einmal ihre Eltern sind über das Ausmaß ihrer prekären Lage im Bilde.

Die treffliche Eva Löbau lässt uns empfinden, dass es stets auch um die eigene Würde geht, wenn Alice an der Ladenkasse ihre letzten Münzen zusammenkratzt, Ausreden erfindet, um nicht als Bettlerin dazustehen, vor dem Spiegel Finten für Vorstellungsgespräche einstudiert oder einmal in ihrer Ohnmacht verzweifelt am Bankautomaten ausflippt. Mit jeder Bewegung und jedem Blick bröckelt indes die von Zweckoptimismus und Lügen aufrecht erhaltene Fassade.

Bei aller Tragik ist dies jedoch kein durch und durch bedrückendes Sozialdrama. Denn hier und da blitzt ein skurriler Humor auf, wenn etwa Alice in ihrer Einsamkeit einen Callboy mit Tankgutscheinen bezahlt, mit denen sie für ihre Teilnahme an einer Marktforschungsstudie entlohnt wird. Not macht erfinderisch. Oder wenn der Gebeutelten kurz vor einem Vorstellungstermin im Zuge eines irrwitzigen Malheurs ein Zahn abbricht. So einen klugen, witzigen, komplexen gesellschaftspolitischen Beitrag sieht man im deutschen Kino nicht alle Tage. Kirsten LieseD 2017, R: LUCIA CHIARLA, D: EVA LÖBAU, BENIAMINO BROGI, VERONIKA NOWEG-JONES U. A., 120. MIN., KINOSTART: 15.11.2018


Der Trafikant

Wien, 1937: „Vielleicht ist die Liebe nichts für mich. Oder vielleicht bin ich nichts für die Liebe“, hadert der 17-jährige Franz mit seinem Schicksal. Denn kaum, dass der unerfahrene Junge aus dem Salzkammergut auf dem Prater seine erste Liebe, die fesche Böhmin Aneszka, kennengelernt hat, ist sie ihm schon wieder abhanden gekommen. „An den Klippen zum Weiblichen zerschellen selbst die Besten von uns“, tröstet ihn der 82-jährige Professor Sigmund Freud. Dem weltbekannten Psychoanalytiker scheint das weibliche Geschlecht ein ebenso großes Rätsel wie ihm, und er ist Stammkunde in einem kleinen Tabak- und Zeitungsgeschäft. Dort arbeitet Franz als Lehrling beim couragierten Trafikant – heute würde man ihn Späti-Besitzer nennen – Otto Trsnjek. In der politisch brodelnden Metropole herrscht bald ein anderer Ton. Die deutschen NS-Truppen marschieren ein. Unter dem Jubel der Bevölkerung verkündet Hitler den Anschluss. Und Franz bekommt die braune Bedrohung zu spüren. Nach dem gleichnamigen Bestseller des österreichischen Autors Robert Seethaler inszeniert Regisseur Nikolaus Leytner einfühlsam die berührende Geschichte um den heranwachsenden Franz. Ohne Effekthascherei entsteht ein mahnendes Stück Zeitgeschichte. Glaubwürdig verkörpert dabei Bruno Ganz den alten bescheidenen Weltbürger Freud. Luitgard Koch

A/D 2018, R: NIKOLAUS LEYTNER, D: SIMON MORZÉ, BRUNO GANZ, JOHANNES KRISCH, EMMA DROGUNOVA, MICHAEL FITZ, REGINA FRITSCH, KAROLINE EICHHORN, ELFRIEDE IRRAL, GERTI DRASSL U. A., 113 MIN., KINOSTART: 1.11.18


Juliet Naked

Seit Jahren lebt Annie Platt unfreiwillig in einer Dreiecksbeziehung: Sie, ihr langjähriger Freund Duncan und last but not least der mysteriöse Folk-Rocker Tucker Crowe. Ihm huldigt Duncan wie besessen. Er ist seinem Idol verfallen. Dabei steht nicht einmal fest, ob der Musiker, der vor 25 Jahren das Album Juliet veröffentlichte, überhaupt existiert. Nach einem Auftritt blieb er verschwunden und ward nie mehr gesehen. Wie kaum ein anderer Schauspieler prägte Ethan Hawke eine Generation von Kinofans, mit Filmen wie Der Club der toten Dichter, der Before Sunrise-Trilogie und Boyhood. Vom sensiblen Schüler mit Zivilcourage und Slacker-Antihelden zum verzweifelten Priester reicht die Spannbreite des 47-Jährigen. Als gescheiterter Rocksänger zeigt er in der aktuellen romantischen Tragikomödie über einen besessenen Popfan, den Erfolgsautor Nick Hornby schuf, ungeahnte Talente. An seiner Seite brilliert die Australierin Rose Byrne, bekannt aus Komödien wie Brautalarm. Die Leinwandadaption besticht nicht nur durch Tiefe und Witz ihrer Dialoge, sondern bietet hochwertiges Schauspielerkino. Zudem gelingt es Regisseur Jesse Peretz, die ordentliche Portion britisch-trockenen Humors der Romanvorlage zu bewahren. Luitgard Koch

USA 2018, R: JESSE PERETZ, D: ETHAN HAWKE, ROSE BYRNE, CHRIS O ́DOWD, LILY BRAZIER, AYOOLA SMART, AZHY ROBERTSON, DENISE GOUGH, ELAANOR MATSUURA, THOMAS GRAY U. A., 105 MIN., KINOSTART: 15.11.18