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Traut bloß keinem preisgekrönten Journalisten! So könnte etwas zugespitzt das Fazit der jüngsten Enthüllungen lauten, die die Presselandschaft erschüttern. Für Wirbel sorgte der vielfach ausgezeichnete Reporter Claas Relotius, der ganze Geschichten frei erfand. Der Mann wurde in der Zunft als schwarzes Schaf angeprangert, doch genauer besehen verrät der Vorfall schlechte Angewohnheiten, die längst viele sogenannte Qualitätsmedien angenommen haben. Seine Stories wurden nämlich mit Blick auf Journalistenpreise in Auftrag gegeben und erdichtet. Preise sind die Währung der Branche, es gibt rund 500 davon von unterschiedlichem Prestigewert. Und von den Jurys werden vorzugsweise „szenische Rekonstruktionen“ mit herzzerreißenden Szenen prämiert. So wird der Journalist zunehmend zum Novellenautor.

Freilich darf er nicht so extrem wie Relotius fabulieren, doch gewöhnlich wird seine Berichterstattung mit winzigen, ausgedachen Details gespickt. Er beschreibt Szenen, denen er gar hätte beiwohnen können. Kriecht in die Köpfe seiner Figuren hinein, um zu erzählen, wie diese sich insgeheim fühlen. Die Grenze zur Fiktion wird umso fließender, wenn Literaten sich in die Publizistik einmischen. „Was kümmert mich das Wörtliche!“, erwidert der Romanautor Robert Menasse, als ihm ein in politischen Beiträgen mehrmals bemühtes, frei erfundenes Zitat vorgeworfen wird. Einen Preis dafür bekam er trotzdem.

Am liebsten werden Geschichten aus der Ich-Perspektive erzählt. Da kommt so leicht kein Prüfer ran. Es sei denn, man wird übereifrig, so wie letztens Dirk Gieselmann, auch ein preisgekrönter Journalist. Er beschrieb, wie er einem Mädchen, das sich verlaufen hatte, wieder nach Hause zu kommen half. Nur verkaufte er dieselbe Geschichte an zwei verschiedene Zeitschriften. Einmal springt er im Winter einer Emily bei, einmal im Sommer einer Annelie. Angeblich werden solch halbfiktionalen Berichte von den Konsumenten nachgefragt. Dagegen spricht jedoch die abnehmende Leserschaft. Wer Belletristik sucht, wird sie besser woanders finden. Wie wär’s stattdessen einfach mit gut recherchierten, inhaltsreichen Reportagen? Guillaume Paoli