Christine Lehmann: Die zweite Welt

Der 8. März, internationaler Frauentag: Ein Kampftag, ein Streiktag, inzwischen mancherorts ein Feiertag. Tausende Frauen demonstrieren auf Straßen und Plätzen. Sie zeigen sich und stellen ihre Forderungen. Und werden zum potentiellen Ziel eines mörderischen Frauenhassers. Wie in Stuttgart, wo ein geifernder Anrufer beim Südwestrundfunk mit einem Attentat auf die abendliche Frauentagsdemo droht, zu der Tausende Frauen erwartet werden. Die Autorin und gelernte Journalistin Christine Lehmann lässt auch im 13. Fall ihre hartnäckig-robuste, unverdrossen feministische Ermittlerin Lisa Nerz, von Haus aus Journalistin, vor einem akribisch recherchierten Hintergrund höchst aktueller politischer Debatten agieren. Lisa, Trägerin des schwarzen Gürtels und mit wechselnden sexuellen Begierden gesegnet, kämpft sich mit ihrem Lebensgefährten, Oberstaatsanwalt Dr. Richard Weber, und ihren Freundinnen angewidert durch die Hetzkampagnen und Gewaltphantasien antifeministischer Männergruppen in den virtuellen Netzwerken, um den Attentäter rechtzeitig zu finden. Gleichzeitig freundet sie sich mit einer türkischstämmigen Nachbarstochter an, deren digitales Naturtalent von großem Nutzen ist. Natürlich sucht auch die Polizei nach dem Attentäter, um ein grausiges Blutbad zu verhindern, wenn auch weniger erfolgreich. Der Unübersichtlichkeit unserer Welt geschuldet, geht es in dem Roman zwischendrin auch um Zwangsheirat, kulturelle Identität oder religiöse Zugehörigkeit. Das könnte belehrend wirken, zumal es faktenreich unterfüttert wird, ist es aber nicht. Denn Christine Lehmann integriert all diese Themen geschickt in authentische Dialoge. Ihre treue Fangemeinde erwartet in der Lisa-Nerz-Reihe genau diese Debatten, die sie selber täglich führt oder führen muss. Uhrzeiten als Kapitelüberschriften steigern die Spannung permanent bis zum filmreifen, actionreichen Showdown. Der, wie es sich gehört, nicht nur Lisa Nerz zur Heldin werden lässt, sondern die Story auch zum plausiblen und logischen Ende führt. Man kann der promovierten Literaturwissenschaftlerin Christine Lehmann nur dazu gratulieren, wie sie diesen brisanten, zu Klischees verführenden Plot immer wieder mit schrägem Witz, überraschenden Wendungen, konterkarierenden Erwartungen und spleenigen Typen aufmischt. So führt uns die Autorin, die im Stuttgarter Stadtrat für Bündnis90/Die Grünen sitzt und sich als VS-Landesvorsitzende von Baden-Württemberg gewerkschaftlich engagiert, souverän, sprachsicher und fast spielerisch durch die Welt der sich vermehrenden Frauenhasser und Rechtspopulisten, aber auch durch die von Frauensolidarität und Schwesternschaft. Ulla Lessmann

ARIADNE VERLAG, 253 S., 13 €


Gary Shteyngart: Willkommen in Lake Success

Schon auf der ersten Seite dieses ironischen Romans beginnt das Drama: Barry Cohen, ein Multimillionär und Hedgefonds-Manager, flüchtet aus New York. Er hat seine Frau und seinen autistischen Sohn vernachlässigt und seine Anleger betrogen. Die Börsenaufsicht und das FBI sind hinter ihm her, doch Cohen kümmert das alles nicht. Er steigt in einen Greyhound-Bus, fährt durchs Land, staunt über das Leben der einfachen Leute und besucht seine College-Liebe in El Paso. Dort beschließt Cohen, wieder ganz von vorne anzufangen. Doch geht das so einfach? Gibt es einen Weg zurück in den normalen Alltag, wenn man von Geldgier und Statusdenken verblendet ist? Wird sich Cohen einer gerechten Strafe entziehen können? Gary Shteyngart schreibt intelligent und höchst unterhaltsam darüber, wie Reichtum den Menschen verändert. Der US-Autor gibt tiefe Einblicke in das Leben der abgehobenen Finanzelite und ins Karrieredenken gebildeter Einwandererkinder. Ein hochaktueller Gesellschaftsroman, der 2016 während des Trump-Wahlkampfes spielt und sich zu einem furiosen literarischen Road Trip entwickelt; sprachlich im Stil von Tom Wolfe und T.C. Boyle. Günter Keil

PENGUIN VERLAG, ÜBERSETZT VON INGO HERZKE, 432 S. 24 €


Jan Drees: Sandbergs Liebe

Im Internet, mehr noch als im analogen Leben, ist eine gesunde Skepsis angebracht. Vor allem, wenn es um die Liebe in Dating-Portalen geht. Kristian, Literaturkritiker, und Kalina, Zahnärztin, stürzen sich jedoch mit Karacho aufeinander, ohne Rücksicht auf Verluste. Große Worte, große Liebe. Schon nach dem ersten Treffen redet Kalina, Luxuswohnungseigentümerin, von Zusammenziehen, Kindern und Ehe. Statt schnell wegzurennen, ist Kristian beeindruckt vom mondänen Leben der Freundin. Die aber fängt nun an, Kristian zu „gaslighten“, in den Wahnsinn zu treiben. Schon am nächsten Tag ist sie abgetaucht, lässt Verabredungen platzen, um ihn anschließend an völlig absurden Vorwürfen verzweifeln zu lassen. Jan Drees beschreibt sehr spannend diese abgefeimte Strategie des emotionalen Missbrauchs. Kristian scheint an eine Borderlinerin geraten zu sein, und dass er diese Erkrankung erst googelt und dann sich selbst zuschreibt, zeigt seine Co-Abhängigkeit, in die er rasant abstürzt. Doch Obacht! Kristians Version ist eben auch nur seine Sicht der Dinge. Jenny Mansch

SECESSION VERLAG, 190 S., 20 €