Britisches Understatement

Es ist eines von vielen viralen Videos, die sich dieser Tage über die sozialen Medien verbreiten. Es zeigt Premierminister Boris Johnson bei einem Besuch in der nordenglischen Stadt Rotherham. Er versucht sich dort als Mann des Volkes zu präsentieren, der gegen die Eliten im britischen Parlament ankämpfen muss. Sein Pech, dass er dort auf eine Frau aus der arbeitenden Bevölkerung trifft, die ihm erst einmal vor laufenden Kameras die Meinung geigt. Wie er, Johnson, sich traue, überhaupt hier zu erscheinen. Schließlich hätte die konservative Sozialkahlschlagpolitik der vergangenen Jahre Menschenleben gekostet. Johnsons Versuch, als populistischer Anführer durchzugehen, funktioniert nicht so, wie er sich das wohl erhofft hat.

Der Zwischenfall in Rotherham zeigt, dass sich viele Menschen im Land einen Politikwechsel wünschen, der das Pendel nach Jahrzehnten neoliberaler Politik in Richtung sozialer Gerechtigkeit zurückschwingen lässt. Vier von zehn Gewerkschaftsmitgliedern haben beim Referendum 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) gestimmt, obwohl sich die Spitze des Gewerkschaftsdachverbands TUC vehement für „Remain“, für den Verbleib eingesetzt hat. Unter nicht gewerkschaftlich organisierten lohnabhängigen Menschen war die Befürwortung des Brexit allerdings noch höher. Der Brexit war der Hilfeschrei einer Bevölkerung, die die soziale Schieflage einfach nicht mehr aushält. Seitdem sind drei Jahre ins Land gezogen, seitdem sind das britische Parlament und die britische Regierung gelähmt. Und an den Lebensbedingungen der Menschen hat sich folglich nichts verbessert.

Das sind die schwierigen Vorzeichen, unter denen britische Gewerkschaften die Brexit-Frage diskutieren. Es ist eine Frage, die viele Themengebiete vermengt: Da ist zum einen die Krise der britischen Demokratie. Während die „Remainer“ parteiübergreifend den Brexit verhindern wollen und inzwischen sogar davon sprechen, die Austrittsentscheidung eventuell für ungültig zu erklären, versuchen die „Brexiteers“ rund um Premierminister Boris Johnson das Parlament zu neutralisieren, weil „Remain“ unter den Abgeordneten die Mehrheit hat. Weder die eine noch die andere Strategie ergibt das Bild einer funktionierenden Demokratie.

Ausweg Neuwahlen

Ein Ausweg aus dieser Situation wären Neuwahlen. Dies ist auch eine von vielen Gewerkschaften aufgestellte Forderung, die mit der Hoffnung auf einen Regierungs- und Politikwechsel verknüpft wird. Von einer neuen Regierung erhoffen sich die Gewerkschaften einerseits den Wiederaufbau des britischen Sozialstaates, andererseits die Vermeidung eines „harten“ oder ungeregelten Brexits.

In einem am 7. September veröffentlichten TUC-Positionspapier heißt es: „Arbeitende Menschen müssen die Möglichkeit bekommen, ihre Meinung zu sagen.“ Nötig sei ein Premierminister, der „für alle arbeitenden Menschen steht, egal wie sie im Referendum abgestimmt haben“. Ein solcher Premierminister – Labour Parteichef Jeremy Corbyn wird nicht namentlich erwähnt, ist aber gemeint – müsse einen „New Deal“, eine neue Abmachung durchsetzen. Dieser „New Deal“ müsse ein Ende prekärer Arbeitsbedingungen, höhere Löhne, Investitionen in Schulen, Krankenhäuser und andere öffentliche Dienstleistungen sowie eine „mutige Strategie“ für die Schaffung neuer, hochqualifizierter Jobs „in den Regionen, in denen sie am meisten benötigt werden“, beinhalten.

Schon 2016, kurz nach der Brexit-Entscheidung, hatte der britische Gewerkschaftsbund eine Reihe von „Tests“ verkündet, an denen sich ein Austrittsabkommen zwischen der britischen Regierung und der EU messen lassen müsse. Dazu gehören: Die Rechte britischer Arbeitnehmer*innen dürfen nicht hinter jene von Arbeitnehmer*innen in der EU zurückfallen. Ein zollfreier und barrierefreier Handel von Gütern und Dienstleistungen zwischen EU und Großbritannien muss gewährleistet bleiben, um Jobs zu schützen. Eine „harte“ Grenze zwischen Nordirland und Irland sowie Gibraltar und Spanien wird abgelehnt.

Fraglich ist, wie diese Forderungen umgesetzt werden können. Die EU beruht auf Freihandel nach innen und Abschottung nach außen. Die härteste aller Grenzen liegt im Mittelmeer, wo tausende Menschen beim Einreiseversuch in die EU ertrinken. Scheinbar ist man sich beim TUC auch nicht so sicher, ob ein solcher Deal ausgehandelt werden könnte. Deshalb fordern die britischen Gewerkschaften auch ein zweites EU-Referendum, um ein von einer Labour-Regierung erzieltes Verhandlungsergebnis in der Bevölkerung zur Abstimmung zu bringen.