Näherinnen in der Vorzeigefabrik Norban in Dhaka

Zweieinhalb Tage war Reba Sikder im April 2013 im eingestürzten Rana-Plaza-Gebäude in Dhaka (Bangladesch) eingeschlossen, bevor Rettungskräfte sie befreien konnten. Die Gewerkschaftsaktivistin Kalpona Akter reiste zusammen mit der Überlebenden der Katastrophe später durch die USA, um für einen Hilfsfonds zu werben. In einem Bekleidungsgeschäft staunte die junge Arbeiterin: So viele Jeans „Made in Bangladesh“. „Was kostet diese Jeans?“, wollte sie wissen. Kalpona Akter antwortete: „75 Dollar“. Die junge Frau tippte die Summe in ihr Handy ein, ein Dollar sind etwas über 80 Taka – und rief dann laut aus: „Was? Das ist ja der Verdienst eines ganzen Monats!“

Kalpona Akter kennt diese Wut. Im Alter von 12 begann sie in einer Textilfabrik, mit 14 organisierte sie bereits andere Arbeiter*innen. Sie wurde gefeuert, saß im Gefängnis. Ein enger Mitarbeiter wurde zu Tode geprügelt, der Täter nie verhaftet. „Die Polizei hört unsere Telefone ab und besucht uns in unseren Büroräumen“, sagt sie. Sie glaubt: Es geht um Einschüchterung des Bangladesh Centre for Worker Solidarity, dem sie vorsteht.

Die Schwarze Liste

Mehr als 12.000 Arbeiter*innen wurden entlassen, 7.500 angeklagt nach den Protesten gegen die dürftige Mindestlohn-Erhöhung Ende 2018. Statt der von den Gewerkschaften geforderten 16.000 Taka im Monat legte die Regierung nur 8.000 Taka (83 Euro) als neues Einstiegsgehalt fest. „Fast alle Entlassenen und Verhafteten sind jetzt auf einer Schwarzen Liste“, sagt Amirul Haque Amin, Präsident der National Garment Workers Federation (NGWF). Sie ist mit fast 90.000 Mitgliedern die größte, landesweit aktive Textilgewerkschaft, gegründet wurde sie 1984. In der Zeit der Militärdiktatur von 1982 bis 1990 waren Gewerkschaften in Bangladesch verboten. Amin selbst wurde drei Mal verhaftet.

Über 4 Millionen Menschen arbeiten in Bangladeschs Textilindustrie – höchstens 5 Prozent sind gewerkschaftlich organisiert. Die hohen Wachstumsraten des südostasiatischen Landes, 6 bis 7 Prozent, hängen am Export. Und die Textilindustrie ist der mit Abstand wichtigste Sektor. Rund 60 Prozent aller Textilexporte gehen in die EU – vor allem nach Deutschland, dem weltweit größten Abnehmer von Shirts, Hosen und Hemden „Made in Bangladesh“.

Nach der Katastrophe von Rana Plaza wurde 2013 der „Bangladesh Accord“ für Brandschutz und Gebäudesicherheit gegründet – von 220 internationalen Modefirmen und den internationalen Gewerkschaftsförderationen Global Unions IndustriALL und UNI. Auch acht Gewerk- schaften aus Bangladesch, darunter die NGWF, sowie die Kampagne für Saubere Kleidung waren bislang dabei. Gut 2,2 Millionen Textilarbeiter*innen in 2.000 sicherheitsüberprüften Fabriken (von insgesamt 4.500) schulte das Accord-Team, verteilte Informationen zu Überstunden, Mutterschutz, Belästigung am Arbeitsplatz – und richtete eine anonyme Beschwerde-Hotline ein.

Ein neues Gremium

Doch selbst in einer vom Accord kontrollierten Vorzeigefabrik wie Norban im Großraum Dhaka, mit guten und sicheren Arbeitsbedingungen für die 3.400 Beschäftigten, wird nicht mehr als der Mindestlohn gezahlt. Derweil steigen die Lebenshaltungskosten rapide, explodieren die Mieten. Hinzu kommt: Nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs ist unklar, wie es mit dem Accord weitergeht. Geplant ist ein neues Gremium, in dem neben Gewerkschaften und Modefirmen auch der Textilarbeitgeberverband BGMEA mit seinen engen Verbindungen zur Regierung sitzen soll. Ob die NGWF sich angesichts dieser Machtverschiebung weiter beteiligen will, werden die Kolleg*innen jetzt diskutieren, sagt Amin.

Ein Druckmittel für Gewerkschaften könnten die Verhandlungen zwischen Bangladesch und der EU sein. Denn die bisher gewährte Zollfreiheit auf Textilprodukte wird es künftig nur noch bei Einhaltung der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation geben. Volker Rekittke