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Mit tausenden Gitarren haben am 25. Oktober 2019 Chile*ninnen an Victor Jara erinnert, der unter der Diktatur Augusto Pinochets ermordet wurdeAna Karina Delgado/Polaris/ddpx

"Nach 43 Tagen haben wir noch keinen Kampf gewonnen. Was wir haben, sind Tote und Verletzte, und viel Selbstorganisierung, das ja." Paula Pailamilla (31), Künstlerin aus Santiago, ist nach mehr als einem Monat Aufstand und täglichen Demonstrationen besorgt. In Chile gibt es einen Volksaufstand seit am 17. Oktober Schüler*innen anfingen, gegen die Erhöhung der Preise für U-Bahn-Tickets um 30 Pesos in der Hauptstadt Santiago zu protestieren. Sie traten damit eine Spirale aus Repression und Widerstand los, mit der zuvor wohl kaum jemand gerechnet hatte. Seither finden im ganzen Land tagtäglich Demonstrationen und Aktionen statt, mal mit wenigen Hundert, mal mit Millionen Menschen auf der Straße, aber alle ohne Anführer.

Die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei, die verbarrikadierten Läden in den Straßen Santiagos, die Farbbeutel, die auf Wasserwerfer geworfen werden, die Graffitis an den Wänden, die zu weiterem Protest aufrufen, zeigen, dass der Aufstand noch lange nicht vorbei ist. Für die Chilenen ist klar: "Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre." 30 Jahre seit dem Ende der Militärdiktatur, 30 Jahre leerer Versprechen von "besseren Zeiten", gemacht von linken wie rechten Parteien, die alle nicht eingehalten wurden.

Immer wieder Tote

Die jetzigen Proteste fingen mit einer Zäsur an: Am 19. Oktober schickte die Regierung zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur 1990 das Militär in die Straßen und erklärte in Santiago den Ausnahmezustand, der am 21. Oktober auf das ganze Land ausgeweitet wurde. Das Ziel war es, "Recht und Ordnung" wiederherzustellen. Allerdings führte der Militäreinsatz mit scharfer Munition, nicht zu einem Nachlassen der Proteste, im Gegenteil. Nach einer Woche wurde der Ausnahmezustand beendet, es gab 22 Tote, erschossen, zu Tode geprügelt oder bei Bränden ums Leben gekommen.

Auch ohne Militär in den Straßen geht die staatliche Gewalt unvermindert weiter. Demonstrationen werden von der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas angegriffen. Die Konsequenzen sind brutal: Das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) zählt bis zum jetzigen Zeitpunkt 2.808 Demonstrierende, die im Krankenhaus behandelt werden mussten – und das sind nur die bekannten Fälle. Für besondere Empörung sorgt, dass nach Angaben des INDH mindestens 241 Menschen ein Auge verloren haben. Denn neben Wasserwerfern und Tränengas setzt die Polizei vor allem Gummigeschosse gegen die Protestierenden ein. Gummigeschosse sind in den Dienstanweisungen eigentlich als letztes Mittel vorgesehen, wenn das Leben von Dritten gefährdet ist. Es gibt hunderte Videos von Polizisten, die wahllos in Demonstrationen schießen.

Inzwischen haben sowohl Amnesty International als auch Human Rights Watch Berichte vorgelegt, die den chilenischen Sicherheitsbehörden schwere Vorwürfe machen: "Das Ziel der Sicherheitskräfte ist klar: diejenigen, die protestieren, zu schädigen, um den Protest zu entmutigen, bis hin zur Anwendung von Folter und sexueller Gewalt gegen Demonstranten." So Amnesty International.

"Das Ziel der Sicherheitskräfte ist klar: diejenigen, die protestieren, zu schädigen, um den Protest zu entmutigen, bis hin zur Anwendung von Folter und sexueller Gewalt gegen Demonstranten."
Amnesty International

Wasserkanister gegen Tränengasgranaten

Angesichts der Schwere der Repression haben die Protestierenden angefangen, sich mit Schilden gegen die Übergriffe der Polizei zu verteidigen, manche sind dazu übergegangen, auf Demos Wasserkanister dabei zu haben, um Tränengasgranaten zu neutralisieren, und Freiwillige koordinieren Erste-Hilfe-Stationen, wo Demonstranten sich behandeln lassen können.

"Als ich zum Arzt ging, wurde mir gesagt, ich solle nach Hause gehen. Sie sagten mir 'Wir entfernen das Geschoss nicht, der Körper gewöhnt sich daran.' Es hat sich dann entzündet, alles war voll mit Eiter", erzählt Luis Ortis, 30, dem bei einer Demonstration von der Polizei ins Gesicht geschossen worden war. Die mangelnde Gesundheitsversorgung ist eines der Probleme, derentwegen die Chilenen auf die Straße gehen. In der öffentlichen Gesundheitsversorgung läuft die Behandlung ohne privat finanzierte Versicherung darauf hinaus, die Leute gerade so weit zu behandeln, damit sie nicht noch im Krankenhaus tot umfallen – und das bei 80 Prozent Chilenen, die keine private Krankenversicherung haben.

Chile, das noch kurz vor den Protesten von Präsident Sebastián Piñera als "Oase" der politischen Stabilität in Lateinamerika gepriesen wurde, ist neoliberales Musterland. Während der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet wurde die chilenische Wirtschaft unter der Ägide der sogenannten "Chicago Boys" einer Welle massiver Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen unterzogen. Der Name bezieht sich auf eine Reihe von Ökonomen, die vom Neoliberalismus-Guru Milton Friedmann in Chicago ausgebildet worden waren und auf Anweisung Pinochets ab dem Jahr 1975 sämtliche wirtschaftlichen Schlüsselpositionen übernahmen.

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Medizinstudenten helfen einem verletzten DemonstrantenAna Karina Delgado/Polaris/ddp

Entsprechend der von Milton Friedmann entwickelten sogenannten "Schockstrategie" wurde in jener Zeit radikal privatisiert, vom Gesundheits- über das Rentensystem, das Bildungssystem, bis sogar zum Trinkwasser. Viele der damals getroffenen Maßnahmen sind immer noch in Kraft, ebenso wie die im Jahr 1981 ausgearbeitete Verfassung. Diese schreibt die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung fest und macht tiefergehende Reformen unmöglich. Dementsprechend ist die Verfassung der Mehrheit der Chilen*innen verhasst.

Spätestens seit 2006, als es zu ersten Massendemonstrationen von Schüler*innen gegen das Bildungssystem kam, rumort es regelmäßig in der chilenischen Gesellschaft. Die Probleme, die die Chilen*innen umtreiben, wurden aber von keiner Regierung, ob sozialdemokratisch oder konservativ, angegangen.

85 Prozent fordern neue Verfassung

Das erklärt auch die Vehemenz der jetzigen Proteste. "Wir, die wir zu den Demos gehen, wissen, dass wir viel Kraft aufbringen müssen, um bestimmte Sachen durchzusetzen. Und was wir verändern müssen, um eine verfassungsgebende Versammlung zu erreichen", sagt die Künstlerin Paula Pailamilla. Nach Umfragen des Meinungsforschungsinstituts CADEM unterstützen 85 Prozent der Chilen*innen die Forderung nach einer neuen Verfassung.

Diese soll es nun möglicherweise auch geben. Nach Absprachen kündigten die Regierung und Teile der parlamentarischen Opposition am 15. November für April 2020 ein Referendum an, in dem darüber abgestimmt werden soll, ob es eine neue Verfassung geben soll. Für die Chilen*innen ist das aber zu weit in der Zukunft und erscheint vielen lediglich als Versuch, die Proteste zu befrieden. 67 Prozent von ihnen sprechen sich dafür aus, weiter zu protestieren und zu demonstrieren.

Während zudem die angekündigten Sozialreformen, die den meisten Chilen*innen nicht weit genug gehen, auf ihre Umsetzung warten, ist die Regierung bei der Umsetzung von repressiven Gesetzesverschärfungen um so schneller. Neben dem Austausch einiger älterer neoliberaler Kabinettsmitglieder gegen jüngere neoliberale Kabinettsmitglieder ist die bisher einzige Konsequenz der Proteste ein Gesetz, das das Protestieren mit Vermummung kriminalisiert. Auch für Pailamilla ist klar: "Die Proteste werden weitergehen."

Mitarbeit: Elizabeth Huehuentro