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Das Bundesverfassungsgericht rüttelt kräftig an einer der tragenden Säulen der neoliberalen Agenda-Politik: Nach 15 Jahren Hartz-IV-Regime hat Karlsruhe die vom Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) detailliert festgelegten Strafvorschriften gegen unbotmäßige "Kund*innen" der Jobcenter teilweise für verfassungswidrig erklärt und mit sofortiger Wirkung außer Kraft gesetzt.

Grundlage dieser einstimmig ergangenen Entscheidung des Ersten Senats unter Vorsitz von Vizepräsident Stephan Harbarth waren Fragen, die das Sozialgericht Gotha dem höchsten deutschen Gericht bereits im Jahre 2015 vorgelegt hatte, nämlich ob die SGB-II-Regelungen mit dem Grundgesetz vereinbar seien, nach denen Hartz-IV-Berechtigte bei sogenannten Pflichtverstößen mit der Kürzung ihrer Unterstützungsleistungen bis auf null sanktioniert werden dürfen.

Das Thüringer Gericht hatte dabei die Auffassung vertreten, die Regelungen seien verfassungswidrig, weil es "in einem Sozialstaat undenkbar, unzulässig und verfassungswidrig" sei, "soziale Hilfen komplett zu versagen und Bedürftige gegebenenfalls hungern zu lassen". Es verdeutlichte, welche Folgen die Unterschreitung des vom Staat selbst definierten Existenzminimums haben könne: körperliche Mangelerscheinungen bis hin zum Tod, Depressionen bis hin zur Selbsttötung.

Mit seinem Urteil vom 5. November 2019 bestätigte das Bundesverfassungsgericht nun unter dem Aktenzeichen 1 BvL 7/16, der Gesetzgeber dürfe zwar existenzsichernde Leistungen des Staates an die Bedingung knüpfen, dass ihre Bezieher*innen "zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit" erfüllen, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Der Staat dürfe auch "die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen" entziehe. Dafür gelten laut Gericht "allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit", der ansonsten weite "Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers" sei hier beschränkt.

Unvereinbar mit dem Grundgesetz seien allerdings Sanktionen, durch die "die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt". Für verfassungswidrig erklärte der Senat zudem die für alle Leistungsminderungen vorgegebene starre Dauer von drei Monaten und die zwingende Vorschrift, Hartz-IV-Leistungen bei Pflichtverletzungen selbst dann zu kürzen, wenn dadurch außergewöhnliche Härten entstehen.

In diesem Zusammenhang betonte Vizepräsident Harbarth, bei der verfassungsrechtlichen Bewertung der Sanktionen spiele eine entscheidende Rolle, dass bislang keine umfassende wissenschaftliche Untersuchung ihrer Wirkungen vorlägen, obwohl sie im gleichen Gesetz ausdrücklich ("regelmäßig und zeitnah") vorgeschrieben seien: "Die mündliche Verhandlung", rügte Harbarth, "und die vielen Stellungnahmen in diesem Verfahren haben gezeigt, dass sich hier im Tatsächlichen viele noch unbeantwortete Fragen stellen."

Nach der Urteilverkündung in Karlsruhe sprach Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD, von einer "weisen und sehr ausgewogenen" Entscheidung, die er schnell umsetzen wolle. Über einige unmittelbar notwendige Änderungen werde es noch im Laufe des gleichen Tages Gespräche mit der Bundesagentur für Arbeit und den Bundesländern geben.

Auch der ver.di-Bundesvorsitzende Frank Werneke begrüßte das Urteil, forderte aber, "die bestehenden Regelungen aufzuheben und durch ein menschenwürdiges und verfassungskonformes System zu ersetzen". Ebenso fordern der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Diakonie Deutschland, die Arbeiterwohlfahrt und der Paritätische Wohlfahrtsverband gemeinsam mit weiteren Partnern, Verbänden und Organisationen, die komplette Abschaffung der Sanktionen. Sie entstammten einer längst überwundenen Rohrstockpädagogik des vergangenen Jahrhunderts, sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider.

904.000 Sanktionen allein in 2018

Bundesregierung und Arbeitsverwaltung haben in der Vergangenheit stets versucht, die Dimension des Hartz-IV-Strafsystems herunterzuspielen. Fakt ist: Im Jahre 2018 haben die Jobcenter rund 904.000 Sanktionen verhängt, überwiegend wegen läppischer "Pflichtverletzungen", zu denen etwa die Nichteinhaltung von Terminen zählt. Weil es einzelne Hartz-IV-Berechtigte auch mehrfach treffen kann, war die Zahl der Betroffenen mit 441.000 erheblich niedriger, aber immerhin sind im vorigen Jahr 8,5 Prozent aller Bezieher*innen mindestens einmal sanktioniert worden. Bei einer durchschnittlichen Kürzung um 109 Euro im Monat – ein Haufen Geld für Menschen, die ohnehin am Rande des Existenzminimums leben müssen – dürfte die Arbeitsverwaltung damit aufs Jahr rund 300 Millionen Euro an Unterstützungsleistungen eingespart haben. Wie sich diese Zahlen nach dem jüngsten Karlsruher Urteil entwickeln, bleibt abzuwarten. hem