"Das ist eine echte Herausforderung"

Vorwärts, 14. Oktober 2019

In Gewerkschaften wird das Solidaritätsprinzip großgeschrieben, gleichzeitig gibt es Mitglieder, die die AfD wählen. Wie geht das aus Ihrer Sicht zusammen?

Verdi ist klar gegen rechts aufgestellt. Das gilt für alle DGB-Gewerkschaften. Wir stehen in einer antifaschistischen Tradition, angefangen bei der Niederschlagung des Kapp-Putsches, über den Widerstand im Dritten Reich bis zum Kampf gegen rechts in der Bundesrepublik Deutschland. Das sollten alle wissen, die dann trotzdem die AfD wählen. Der Anteil von AfD-Wählern unter Gewerkschaftsmitgliedern entspricht nach Wahl-Befragungen in etwa dem Anteil innerhalb der Gesellschaft. Das ist natürlich eine echte Herausforderung für uns. Die führt jedoch nicht dazu, dass wir an Eindeutigkeit verlieren. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es einen Teil in der Bevölkerung – auch innerhalb der Gewerkschaften – gibt, die unsere Argumente nicht annehmen. Manche erschaffen sich ihre eigene Gedankenwelt und sind rein aus pragmatischen Gründen Gewerkschaftsmitglied und verschließen sich einem politischen Diskurs. Unsere Aufgabe ist es, dies zu durchbrechen – und das ist alles andere als banal.

Frank Werneke, ver.di-Vorsitzender

Silvester im Oktober

Junge Welt, 26. Oktober 2019

Um auf die schlechten Arbeitsbedingungen in deutschen Kliniken aufmerksam zu machen, feierten bundesweit Beschäftigte in Krankenhäusern bereits in der Nacht zum Mittwoch Silvester. Nach Berechnungen von Verdi sei die reguläre Arbeitszeit aufgebraucht […] Seit Mittwoch würden demnach die Klinikbeschäftigten Überstunden leisten oder freiwillig für lau arbeiten. An der Uniklinik in Jena wurden zu diesem Anlass symbolisch Glückskekse verteilt.

"Gewerkschaft" vor der Zerreißprobe

handelsblatt, 15. Oktober 2019

Der Jubilar lässt sich ordentlich feiern. Wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) […] mit einem Festakt in Berlin seinen 70. Geburtstag begeht, dann hält Kanzlerin Angela Merkel die Festrede. Sie wird das Hohelied der Sozialpartnerschaft singen, die staatsentlastende Funktion von Tarifverträgen loben und versprechen, sich für eine Stärkung der Tarifbindung einzusetzen. […] Der Bund, der am 13. Oktober 1949 in München aus der Taufe gehoben wurde – nur vier Jahre nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs –, ist bis heute die politische Stimme der Gewerkschaften. […] Erfolge wie das Betriebsverfassungsgesetz, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Fünftagewoche oder der Mindestlohn konnten auch deshalb durchgesetzt werden, weil die Gewerkschaften mit einer Stimme sprachen – […] Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betriebs- und Aufsichtsräten oder der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen ist Ausdruck dafür, dass Demokratie nicht am Werkstor endet. […] Vor allem das verantwortungsvolle Agieren während der Finanz- und Wirtschaftskrise – im Schulterschluss mit den Arbeitgeberverbänden – hat den Gewerkschaften viel Lob eingebracht. […] Doch kann der DGB heute überhaupt noch mit einer Stimme sprechen? Was zählt das Kollektiv noch im Zeitalter des Individuums mit seiner Selfie-Kultur? […] Dem Gewerkschaftsbund geht es dabei nicht anders als den auf dem Weg zur Verzwergung befindlichen Volksparteien. Angesichts der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen fällt es immer schwerer, übergreifende Antworten auf gesellschaftliche Fragen zu finden. […] 70 Jahre nach Gründung des DGB ist vielen das demokratische Austarieren […] zu mühsam geworden.