Ausgabe 01/2020
Der Fluch der sozialen Kälte
Ungemütlich und anstrengend ist das Leben geworden. Es geht nicht nur ums "Wetter", nicht nur um Fleischkonsum und Biokarotten. Der Technik-einsatz wälzt viel mehr um: E-Auto, Gesichtserkennung, flexible Arbeitszeiten, Verlust von hunderttausenden von Arbeitsplätzen. Dabei feiert die Ellbogengesellschaft neue Triumphe. Wenn auch als Minderheit, so denken viele, zu viele ausschließlich nur noch an sich selbst, bestenfalls an die eigene Familie. Ziehen sich manche ganz aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, lassen sich das Essen von "Lieferando" kommen, pflegen Geselligkeit und beziehen Informationen nur noch über die privaten Klatsch-und-Tratsch-Kanäle der Social-Media-Industrie, um sich im Wettbewerb um die hetzerischsten Sprüche des Tages gegenseitig zu überbieten.
Und so was kommt von sowas. Diese Menschen sehen, dass die Großkopferten dieser Welt sich oft keinen Deut um Anstand, Recht und Gesetz scheren. Heerscharen von Manager*innen großer Konzerne und Finanzmagnaten dürfen – legal, illegal, scheißegal – ungestraft Milliarde um Milliarde als Schadenersatz- und Strafzahlungen in den Sand setzen, Geld, das von den abhängig Beschäftigten hart erarbeitet worden ist. Fußball- und andere Sportfunktionäre haben mit dem Thema Leibesübungen ein Milliardengeschäft entwickelt. Das staunende Publikum muss mit ansehen, wie abgehalfterte Politiker*innen auf hoch dotierten Posten in der Wirtschaft ihre Altersversorgung aufbessern.
Da nimmt es kaum Wunder, dass viele Normal- bis Kleinbürger glauben, sie könnten das, was sie für ihr Recht (u.a. auf Meinungsfreiheit) halten, auf eigene Faust durchsetzen, dürften aggressiv beschimpfen, beleidigen oder gar das staatliche Gewaltmonopol ignorieren. Sie greifen an, was sie auch nur entfernt an staatlich-demokratische Autorität erinnert: Sachbearbeiter*innen der Arbeitsämter und Jobcenter, Politessen vom Ordnungsamt, Zugbegleiter*innen, Straßenbahn- und Busfahrer*innen, Polizist*innen, sogar Ärzt*innen, Sanitäter*innen und Feuerwehrleute im Rettungseinsatz und bevorzugt auch Kommunalbedienstete, ehrenamtliche wie hauptamtliche Bürgermeister*innen und andere Mandatsträger*innen. Tag für Tag werden laut Bundeskriminalamt irgendwo in der Republik mehr als drei Stadt- und Gemeindeoberhäupter angegriffen, weil sie von politisch motivierten Straftäter*innen für alles verantwortlich gemacht werden, was die für Politik halten. Und sie sind auch – weil vor Ort und ungeschützt – am leichtesten "greifbar" für aggressive Wutbürger*innen.
Viele von ihnen können sich die Ursachen dieser Entwicklung kaum erklären: Sie haben doch fast alles richtig, jedenfalls nichts falsch gemacht. Diese Einstellung teilen sie allerdings mit der großen Mehrheit ihrer Kolleg*innen in der "großen Politik". Die wenigsten von denen, die dort seit Beginn dieses Jahrtausends mit ihren Parteien, der SPD, der CDU/CSU, den Grünen und der FDP, die marktradikale Agenda-Politik auf Bundes- und Länderebene mitgetragen haben und mittragen, haben ein schlechtes Gewissen. Kaum eine*r von ihnen fragt sich heute, was sie/er beigetragen hat zum Klima der sozialen Kälte, zum massiven Akzeptanzverlust unseres Systems der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Aber die – politisch gewollte – Schaffung des größten Niedriglohnsektors in Europa, die Kürzung der Renten, die Unterwerfung fast aller Lebensbereiche, insbesondere auch der Gesundheit und des Wohnens, unter das Primat der privat erzielbaren Rendite, die damit verbundene und sich weiter vertiefende Spaltung der Gesellschaft in eine Minderheit massiv Privilegierter und eine Mehrheit massiv Benachteiligter – all das macht die soziale Kälte aus als Ursache einer gefährlichen Entwicklung unseres Gemeinwesens.
Weg vom Neoliberalismus, hin zum Sozialstaat
olitisch profitiert hat davon bisher in erster Linie eine Gruppierung, die sich selber zur "Alternative für Deutschland" erhoben hat und sich immer weiter zur rechtsradikalen Bedrohung entwickelt. Um sie im Zaum zu halten oder gar zurückzudrängen, reicht es nicht, stets zu betonen, diese Partei sei eine Gefahr für die Demokratie. Das verfängt nicht, wenn ihre Anhänger vom Nutzen der Demokratie so lange nicht überzeugt sind, wie es ihnen kulturell und materiell schlecht geht oder demnächst schlecht gehen könnte. Dem den Boden zu entziehen, gelingt nur, wenn sich die demokratischen Kräfte auf Werte wie Demut, Selbstlosigkeit, Empathie besinnen und einen radikalen Wandel einleiten – weg von Neoliberalismus, übersteigertem Konkurrenzdenken und Marktradikalität, hin zu einem lebenswerten, demokratischen Sozialstaat.