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11. Januar 2020, Marsch der tausend Roben – in Polen demonstrieren 5.000 Jurist*innen und 25.000 Bürger*innen für eine unabhängige JustizSokolowski/dpa-Bildfunk

ver.di publik: Am 11. Januar 2020 sind in Warschau zehntausende Bürgerinnen und Bürger auf die Straße gegangen, um gegen das von der polnischen Regierung geplante sogenannte Maulkorb-Gesetz zu protestieren. Was hat es mit dem Gesetz und Protest auf sich?

THOMAS GUDDAT: Das Richterdisziplinierungsgesetz oder Maulkorb-Gesetz, wie es von Kritikern genannt wird, stellt die jüngste Eskalation der von der polnischen Regierung seit dem Wahlsieg im Oktober 2015 vorangetriebenen Justizreform dar. Das Gesetz sieht für Richter drastische Strafen vor: Richtern, die den Landesjustizrat, KRS, in Frage stellen, droht im schlimmsten Fall die Absetzung. Hierzu muss man aber wissen: Nach einem Vorabentscheidungsverfahren des Europäischen Gerichtshofes vom November 2019, hatte die Arbeits- und Sozialkammer des Obersten Gerichthofs in Polen Anfang Dezember befunden, dass die im Rahmen der Justizreform neu eingerichtete Disziplinarkammer kein Gericht im Sinne des polnischen und des europäischen Rechts ist. Eine wesentliche Feststellung dabei war, dass der Landesjustizrat, das polnische Richterwahlgremium, in seiner jetzigen Zusammensetzung kein unparteiisches und von den anderen Gewalten unabhängiges Organ sei. Damit war im Prinzip die Rechtsprechungsbefugnis sämtlicher von der neu besetzten KRS ernannten Richter in Frage gestellt.

ver.di publik: Der Protestmarsch wurde auch als der Marsch der tausend Roben bezeichnet. Du bist unter den Richter-Delegationen zur Unterstützung des Protestes mitgelaufen. Wie war die Stimmung?

GUDDAT: Es war eine sehr ruhige gefasste Stimmung. 5.000 Juristen liefen erstmals in der polnischen Geschichte in Roben vom Obersten Gericht, vorbei am Präsidentenpalast bis zum Sejm, dem Nationalen Parlament. Begleitet wurden sie von Richtern aus 22 europäischen Ländern und mindestens 25.000 polnischen Bürgern. Es sollte ein Schweigemarsch werden, doch ab und zu skandierte die Menge "Freie Gerichte" und "Dziękujemy", "Wir danken". Das hat uns sehr berührt. Alle Teilnehmer haben den Marsch als ein historisches Ereignis empfunden. Richter sind es nicht gewöhnt zu protestieren – zumal in ihrer Amtstracht. "Das Wohlergehen des Justizsystems ist ein so wichtiges Thema, dass wir als Richter nicht schweigen können, wenn so gravierende Veränderungen eingeführt werden", erklärten uns die polnischen Kolleginnen und Kollegen. Die internationale Solidarität gebe ihnen Mut und Kraft, vor allem die Gewissheit, nicht alleine zu sein. Es war uns aber auch wichtig zu zeigen, dass Richter aus ganz Europa zu den polnischen Kollegen und unseren gemeinsamen Werten stehen.

ver.di publik: Was befürchten die Richterinnen und Richter am meisten?

GUDDAT: Vor allem befürchten sie, dass Europa sie vergessen könnte. Und sie fürchten noch mehr Disziplinarverfahren. Es laufen bereits gegen mehr als 40 Richter Disziplinarverfahren, die im Zusammenhang mit ihrer Kritik an den Justizreformen stehen. Und die Zahl steigt. Betroffen ist unter anderem der Vorsitzende des polnischen Richterverbandes Iustitia, Krystian Markiewicz. Er hatte an 55 Disziplinarrichter in ganz Polen geschrieben und an sie appelliert, vorerst keine Verfahren mehr an eben jene Disziplinarkammer weiterzuleiten, die ja das oberste Gericht mittlerweile für rechtswidrig erklärt hat. Die Reform scheint auch die Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Justizsystem zu verändern. Es kommt schon vor – so berichten Kollegen –, dass Bürger gegenüber dem Richter im Gerichtssaal äußern, dass sie im Falle eines Unterliegens dann eben beim Justizminister vorstellig würden.

ver.di publik: Strebt die derzeit in Polen regierende Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS, mit dieser Reform letztendlich alle Macht im Staate an?

GUDDAT: Ersichtlich ist eine Reformpolitik, die an rechtsstaatlichen Kontrollsystemen nagt. Die PiS begann 2015 mit der Besetzung des Verfassungstribunals mit eigenen Anhängern. Als das Gericht dies für rechtswidrig erklärte, weigerte sich die Regierung, die Urteile zu veröffentlichen und auszuführen. Die öffentlich-rechtlichen Medien wurden "nationale Kulturinstitute", der Minister für Staatsvermögen bestimmt seitdem ihre Vorstands- und Aufsichtsgremien. Die Amtszeit der bisherigen Intendanten lief mit sofortiger Wirkung aus. Sodann reformierte die PiS den öffentlichen Dienst: Per Gesetz beendete sie alle Führungspositionen, Qualifikationen für die Neubesetzung wurden herabgesetzt. Danach folgte die Zentralisierung aller zivilen Geheimdienste, die weitreichende neue Aufklärungsbefugnisse für verdeckte Ermittler sowie Zugriff auf elektronische Kommunikation erhielten. Der Justizminister wurde zugleich Generalstaatsanwalt und so weisungsberechtigter Chef aller Staatsanwälte, die er auch ernennt. Er kann Strafverfahren anordnen, an sich ziehen oder einstellen. Es folgten die Gerichte: Während der Amtszeit von Zbigniew Ziobro als Justizminister von 2005 bis 2007 – er ist seit 2015 wieder in diesem Amt – waren mehrere Prozesse an der Weigerung der Richter gescheitert, ohne Rechtsgrundlage gesammelte Beweise zu verwerten. Nun wurde das Strafprozessrecht so geändert, dass genau das möglich ist. Ende 2019 kündigte Jarosław Kaczyński weitere Reformen an, die PiS werde widerspenstige Richter ruhigstellen. Mit der jetzigen Reform der Ernennung ist klar: In Zukunft wird in Polen niemand mehr gegen den Willen der PiS und des Präsidenten Richter am Obersten Gericht und Verfassungsgericht, niemand eine Stelle beim Landesjustizrat erhalten.

"Es steht nicht zu befürchten, dass die Justizreform aus Polens Richtern Marionetten der Regierung macht"
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Richter Thomas GuddatPrivat

ver.di publik : Droht die Unabhängigkeit der Justiz zu stürzen in Polen?

GUDDAT: Die Unabhängigkeit der Justiz ist bedroht und damit ein unabdingbares Element in einem funktionierenden Rechtstaat. Es steht aber nicht zu befürchten, dass die Justizreform aus Polens Richtern Marionetten der Regierung macht. Dagegen spricht auch, dass sich die Richterschaft bisher erfolgreich dagegen gewehrt hat, zum Instrument der Regierung zur Schikanierung Oppositioneller zu werden. Doch die Frage ist, wie lange noch?

ver.di publik: Die umstrittene Reform könnte noch am Europäischen Gerichtshof scheitern. Die EU-Kommission hat eine einstweilige Verfügung beantragt, sie zu stoppen. Ist das aussichtsreich?

GUDDAT: Das wird man sehen. Noch hat Polens Präsident Andrzej Duda das Disziplinierungsgesetz nicht unterzeichnet. Die Medien gehen jedoch einhellig davon aus, dass er kein Veto einlegen wird. Da ein Einlenken der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten nicht ersichtlich ist, bleibt die einstweilige Verfügung womöglich der einzige Weg. Die Regierung hat bislang betont, dass sie alle Entscheidungen des EuGH respektieren werde.

ver.di publik: Und wenn die PiS sich über alles hinwegsetzt?

GUDDAT: Es käme zu einer weiteren Verschärfung des Konflikts mit Brüssel. Der Europäische Haftbefehl könnte im Verhältnis zu Polen aufhören zu funktionieren. Die Zusammenarbeit und Anerkennung von Urteilen zwischen Polen, EU- Mitgliedsländern und Drittstaaten könnte zum Erliegen kommen. Entscheidend würde sein, ob EU-Bürger, Juristen und ordentliche Gerichte in und außerhalb Polens noch davon ausgehen, dass Polens Justiz unabhängig und funktional ist. Die PiS-Regierung würde mit der Verwirklichung der Justizreform erreichen, dass alle verlieren: die polnische Regierung, die EU und das polnische Justizwesen.

INTERVIEW: Petra Welzel