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Foto: Yay-Armyagov/BO/ddp

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder

Als Norbert Paulini 1953 in Dresden geboren wird, stirbt seine Mutter und hinterlässt ihm jene Bücher, die nicht nur seine Bettstatt werden, sondern später seine ganze Welt. Als Antiquar häuft er Wissen und Bestände an, und sein Geschäft wird zur ersten Adresse für Buchliebhaber und Intellektuelle. Doch die Bücher sind für ihn weit mehr als bloße Handelsobjekte – sie trennen ihn von der wirklichen Welt und werden zur Burg, hinter der er sich verschanzen kann, wenn die Stürme der Zeit über ihn hinwegfegen. Zuerst der Herbst 1989 – an der Revolution nimmt er nicht teil, und als sich die Grenze öffnet, bleibt er zuhause. Doch dann kommt die D-Mark und kein Mensch interessiert sich mehr für antiquarische Bücher, im Gegenteil: Ganze Bibliotheken landen auf dem Müll der Geschichte und Paulini findet sich an der Supermarkt- kasse wieder. Doch auch als das Elbehochwasser seine Bestände frisst, das Internet zum Konkurrenten wird und er Insolvenz anmelden muss, macht er wacker weiter, zieht sich mit seinem Onlinegeschäft und seinem Stahlhelmsohn ins sächsische Osterzgebirge zurück und verachtet zusehends mehr die Welt um sich herum. Einer, "der sein Leben der Literatur verschrieben hat, von mir aus auch der deutschen Kultur oder, wie es jetzt so schön heißt, der Leitkultur …⁠"

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Als schließlich die Polizei vor seiner Tür steht und ihn beschuldigt, sich an fremdenfeindlichen Ausschreitungen beteiligt zu haben, bricht die Erzählung ab. Mitten im Satz. Stattdessen meldet sich der Schriftsteller Schultze (sic!) zu Wort, und berichtet über die Schwierigkeiten, einen Roman über Paulini zu schreiben, von dem er nicht mehr weiß, was er von ihm halten soll. Nicht zuletzt wegen einer ungeklärten persönlichen Angelegenheit. Und Schultzes Lektorin wiederum ahnt im letzten Teil, was die wahren Gründe für das Scheitern des Autors sein könnten.

Diesen Roman zu lesen, hat es ins sich, denn Paulini ist alles andere als ein sympathischer Held, man wird nicht warm mit diesem seltsamen Mann, der zwar die ganze Welt durch Bücher zu kennen meint, dessen eigenes Denken jedoch hoffnungslos provinziell ist. Eine gefährliche Mischung, die schleichend zu Weltsichten führt, in denen aus rechtschaffenen Leuten rechte Brandstifter werden können. Ein großartiger und raffinierter Roman.

Marion Brasch

Roman, S. Fischer Verlag, 320 S., 21 €

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Lioba Werrelmann: Hinterhaus

In Hinterhäusern auf dem Prenzlauer Berg in Berlin ist es dunkel, feucht und gruselig. Genau so ist die Atmosphäre im Krimi-Erstling der Journalistin Lioba Werrelmann. Im Vorderhaus ist die Radio-Nighttalkerin Carolin von jetzt auf gleich von ihrem Lover, dem "bestaussehenden aller Orthopäden", mit sieben Umzugskisten vor die Tür gesetzt worden. Obdachlos, bald auch noch ohne Job, verirrt sich die verwöhnte, unselbstständige, merkwürdig kindlich-naive Rheinländerin zu der skurrilen Nachbarschaft im Hinterhaus und findet prompt hinter einer Duschwand die Leiche eines seit 20 Jahren vermissten Jungen. Nun beginnt ein in jeder Hinsicht überaus schmerzhafter Lernprozess der verständlicherweise häufig heulenden und sich übergebenden Ich-Erzählerin, der sie, die bislang bar jeder Neugierde auf andere Leben war, mit grausigen Abgründen mensch-lichen Handelns konfrontiert. Carolin, gedemütigt, seelisch und körperlich tief verletzt, stellt endlich einige offenbar richtige Fragen, denn sie gerät in höchste Lebensgefahr. Der Autorin gelingt es großartig, den unfreiwilligen, enervierend spannenden Reifeprozess ihrer – letzt- lichen – Heldin glaubwürdig darzustellen und nebenbei die Vergangenheit im Berliner Hinterhaus aus DDR-Zeiten lebendig werden zu lassen. Bei aller Dramatik bleibt in der wendungsreichen Geschichte Zeit für köstliche Seitenhiebe auf das schicke, biodynamische Prenzlauer-Berg-Milieu. Mit ihrem Debüt ist Lioba Werrelmann zu Recht für den Krimipreis "Glauser" nominiert.

Ulla Lessmann

Bastei Lübbe, 317 S., 10 €

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Graham Swift: Da sind wir

Sommer 1959. Im Seebad Brighton moderiert Jack eine Varieté-Show, in der sein Freund Ronnie als Zauberer auftritt. Beide Männer verlieben sich in Ronnies Assistentin Evie, eine ehemalige Revuetänzerin. Jack ist ein begnadeter Enter-tainer, der mit seinem Lächeln das Pub- likum verzaubert. Doch Evie verlobt sich mit dem introvertierten Ronnie. Die gemeinsame Show wird ein Sensationserfolg; nach der letzten Vorstellung verschwindet Ronnie allerdings spurlos, und Evie beginnt eine Affäre mit Jack. Graham Swift hat eine charmante Dreiecksgeschichte verfasst. Der elegant erzählende Brite untersucht gekonnt die Dynamik zwischen seinen Hauptfiguren, leuchtet deren Vergangenheit aus und überzeugt mit trickreicher Dramaturgie. Auf nur 160 Seiten behandelt er große Fragen: Wie wird ein Mensch zum Zauberer? Und wie wirkt sich diese Tätigkeit aufs Privatleben aus? In der Mitte des Romans wagt Graham Swift einen Zeitsprung ins Jahr 2009. Evie blickt zurück auf ihre glück- liche Ehe mit Jack. Doch Ronnies Verschwinden ist noch immer nicht aufgeklärt. Eine zauberhafte, vielschichtig erzählte Geschichte darüber, wie man Geheimnisse bewahrt.

Günter Keil

Dtv, übersetzt von Susanne Höbel, 160 S., 20 €