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Familie in Liverpool mit den Nahrungsmitteln, die sie umsonst in einem Nachbarschaftszentrum erhaltenFotoS: Andrea Bruce / NOOR/laif

Arbeitskampf in Zeiten des Corona-Virus: Am 12. März legten 30 Reinigungskräfte im Londoner Krankenhaus Lewisham spontan die Arbeit nieder. Der Grund: Zum zweiten Mal in Folge hatte ihnen die Reinigungsfirma ISS nicht die korrekten Löhne ausgezahlt. Die Reinigungskräfte kriegen ohnehin einen Hungerlohn von 8,21 Pfund pro Stunde. Das Leben ist schon ohne Corona hart genug, nun wollen sich viele von ihnen Vorräte für eine mögliche Quarantäne daheim anlegen – aber es fehlt ihnen das Geld. Sie stehen buchstäblich vor der Wahl, die Miete nicht zu bezahlen oder für den Corona-Notfall vorzusorgen. Hinzu kommt, dass das Krankenhaus in Lewisham Schauplatz der ersten Corona-Erkrankung in London war.

Gewerkschaft macht den Unterschied

Das ist nur ein Beispiel dafür, welch prekären Umständen arbeitende Menschen in Großbritannien ausgesetzt sind. Hier ein weiteres, ebenfalls aus London: Im Stadtteil Bexley haben die Müllleute in einer Urabstimmung für Streiks gestimmt. Sie fordern einen Lohn von dem sie leben können, ein Ende von "Zero hours"-, Nullstunden-Verträgen, und wichtig: ein Recht auf Krankenstandsgeld.

Diese Frage ist durch den Corona-Virus zum Politikum geworden. Man muss in Großbritannien mindestens 118 Pfund pro Woche bekommen, um Anspruch auf das staatliche Krankengeld von 94,25 Pfund pro Woche zu haben. "Zero Hours"-Verträge garantieren aber weder ein Mindestgehalt noch eine Mindestarbeitszeit. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der arbeitenden Menschen mit "Zero hours"-Verträgen von über 100.000 auf über 900.000 angestiegen. Sogenannte "neue Selbstständige" haben überhaupt keinen Anspruch auf Krankengeld. Zwei Millionen Menschen stehen in Großbritannien deshalb im Krankheitsfall ohne Lohn da.

Hier machen Gewerkschaften einen Unterschied. Bei der landesweit tätigen Großbäckerei Greggs gibt es eine starke gewerkschaftliche Organisierung, das Unternehmen zahlt deshalb auch im Krankenstand die Löhne weiter. Bei der Gastronomiekette Wetherspoons gibt es zwar seit einigen Jahren vor allem durch junge Beschäftigte organisierte Streiks, aber keinen Tarifvertrag. Die Konsequenz: Das Unternehmen zahlt auch vom Coronavirus betroffenen Beschäftigten keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.

Die genannten Beispiele zeigen, wie anfällig die durch Jahrzehnte neoliberaler Politik heruntergewirtschaftete britische Gesellschaft für unvorhersehbare Krisen ist. Als 2016 eine Mehrheit arbeitender Menschen für den Brexit stimmte, war dies auch ein Hilferuf und eine Forderung: Man hatte genug von einer Welt des permanenten Kontrollverlusts im eigenen Leben.

Die derzeit amtierende Regierung von Boris Johnson konnte die Wahlen im vergangenen Dezember auch deshalb gewinnen, weil sie versprach den "Brexit zu erledigen", um danach den Menschen "die Kontrolle" zurückzugeben. Jetzt muss sich Boris Johnson nicht nur bei den Verhandlungen für neue Handels-verträge mit den USA und der EU beweisen, er muss auch Krisenmanagement leisten.

Für die britische Gewerkschaftsbewegung ist die Johnson-Regierung eine neuartige Herausforderung. Johnson steht nicht für ein neoliberales "weiter so", wie es vorangegangene Regierungen betrieben haben. Am 11. März verkündete sein Finanzminister Rishi Sunak einen Haushaltsentwurf für die kommenden Jahre, welcher die größte Erhöhung der Staatsausgaben seit über 30 Jahren und ein Ende der Politik der "schwarzen Null" verspricht. Im öffentlichen Dienst sollen neue Stellen geschaffen werden, viele davon in den deindustrialisierten Regionen Nordenglands.

Immer mehr Streikverbote

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Streik der UCU Trade Union am 26. Februar 2020 für höhere LöhneFotoS: Guy Smallman/Getty images

Gleichzeitig steht Johnson für eine Verschärfung der in den 1980er Jahren von der Thatcher-Regierung begonnenen antigewerkschaftlichen Politik. Johnson arbeitet unter anderem an einem Streikverbot im öffentlichen Transportwesen. Schon jetzt ist eine Verschärfung von Repressalien gegen die Gewerkschaften spürbar. So wurde im Dezember ein landesweiter Streik von hunderttausenden Briefträger*innen und Paketlieferanten bei der britischen Post durch den höchsten Gerichtshof für illegal erklärt, obwohl 97 Prozent der Beschäftigten bei einer Wahlbeteiligung von 76 Prozent in einer Urabstimmung für den Streik gestimmt hatten.

Mit ihrer Entscheidung hat das britische Höchstgericht einem Management unter die Arme gegriffen, welches bei dem privatisierten, ehemaligen Staatsunternehmen die Prekarisierung unter den Beschäftigten vorantreiben möchte. Die Kommunikationsgewerkschaft CWU fürchtet die Einführung von "zero hours"-Verträgen, Stellenabbau und Lohnkürzungen. Eine neue Urabstimmung ist bereits eingeleitet.

In Zeiten des Brexits und von Corona stehen gewerkschaftliche Themen wieder auf der Tagesordnung.