Ausgabe 03/2020
Was sich in der Krise bitter rächt
Covid-19 ist die aktuelle Variante des seit Jahrzehnten bekannten Corona-Virus. Er war so ähnlich schon ein paar Mal aufgetaucht, 2003 als SARS, 2012 als MERS. Vor neuen Varianten wurde seit den 1990er Jahren gewarnt. Trotzdem war auch die EU völlig unvorbereitet. "Im Mittelpunkt der EU-Gesundheitspolitik stehen der Schutz und die Verbesserung der Gesundheit, die effiziente Gesundheitsversorgung und die koordinierte Reaktion auf schwerwiegende Gesundheitsgefahren, die mehr als ein EU-Land bedrohen." So verkündet die EU. Das klingt gut, oder? Doch die EU fördert über den Binnenmarkt den Zugang privater Investoren. Gesundheit wird zur Ware auf dem kapitalistischen Markt. Das knappe, überforderte Pflegepersonal wird schlecht bezahlt. Andere Beschäftigte werden noch schlechter bezahlt: Möglichst viele Stellen werden in prekäre Arbeitsplätze bei Subunternehmen ausgelagert: Für Krankentransport, Reinigung, Küche, Wäscherei, Lagerhaltung, Erfassung der Krankenakten, Sanitäres, Hausmeister. Hygiene gerade im Krankenhaus? Zweitrangig.
Diese Profitausrichtung wurde noch gesteigert durch die Fallpauschale, die Diagnosis Related Groups, DRG. Sie wurde an der privaten Eliteuniversität Yale entwickelt und 1983 in das US-Gesundheitssystem eingeführt. Damit wird nicht die heilende Tätigkeit belohnt, sondern die möglichst kurzfristige und technikintensive Behandlung einzelner Krankheiten. Jedes Bett muss schnell für die nächste Operation leergeräumt werden. Das gehörte zum neoliberalen Programm des US-Präsidenten Ronald Reagan. Der Ex-Pressesprecher von General Electric , dem wichtigsten US-Hersteller von Medizingeräten, versprach die Senkung der Kosten. Das Gegenteil trat ein: Das Gesundheitssystem der USA wurde das teuerste der Welt. Es schließt zugleich einen großen Teil der abhängig Beschäftigten von ausreichender medizinischer Behandlung aus.
Die EU finanzierte das Projekt EuroDRG. Die Bundesregierung unter Kanzler Kohl baute die Fallpauschale in das Gesundheitsstruktur-gesetz von 1993 ein. Die rot-grüne Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder beschleunigte 2004 die Durchsetzung mit der "Modernisierung" der Krankenversicherung und zahlreichen Anreizen für private Investoren. Inzwischen gilt sie in der ganzen EU. Ergebnis: Betrieb auf Kante, keine Reserven bei Epidemien. Zudem ließ sich die EU durch die oberste wissenschaftliche Autorität, die Johns Hopkins Universität, in Sicherheit wiegen. Die US-Eliteuniversität erstellt den Welt-Index für Gesundheitssicherheit: Unter den 195 Staaten steht das Gesundheitssystem der USA auf Platz 1 – gegen Pandemien "am besten vorbereitet". Die Gesundheitssysteme der wichtigen EU-Staaten gelten als "gut vorbereitet". Doch die Gesundheitssysteme in Italien, Spanien und Griechenland liegen seit einem Jahrzehnt noch unterhalb des EU-Normalzustands. Nach der Finanzkrise kamen die Maßnahmen der Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank hinzu: Sie verlangten zur Rettung der verschuldeten Banken drastische Kürzungen, nirgends allerdings im Militärhaushalt, sondern im Sozialen und in der Infrastruktur. Allein im Gesundheitsbereich verlangte die Troika zwischen 2011 und 2018 von diesen Staaten 63 Kürzungen: Ärzte und Pflegekräfte entlassen, Krankenhäuser verkaufen.
Die Troika verlangte drastische Kürzungen, nirgends allerdings im Militärhaushalt, sondern im Sozialen und in der Infrastruktur
Die von der Troika überdies diktierte Senkung von (Tarif)Löhnen, Arbeitslosengeld und Renten führte zusätzlich dazu, dass viele abhängig Beschäftigte, Arbeitslose und Rentner sich immer mehr medizinische Behandlungen gar nicht mehr leisten können. Du bist arm, du brauchst nicht alle Zähne – du kannst früher sterben.
Zur profitablen Verbilligung des Gesundheitsbetriebs fördert die EU die Wanderarbeit. Aus den verarmten Mitglieds- und Anwärterstaaten Osteuropas und Ex-Jugoslawiens werden Ärzte, Krankenhaus- und Altenheimpflegekräfte abgeworben. In Polen, Ungarn, Kroatien, Bosnien und dem Kosovo wurde das Zwei-Klassensystem noch brutaler ausgebaut als im Westen: Die neuen Reichen versorgen sich in Privatkliniken. Daneben verlottern die öffentlichen Gesundheitssysteme, sie bleiben unterfinanziert. Die immer wieder aufkommenden Streiks von Ärzten und Pflegekräften etwa in Polen und Kroatien werden in den reichen EU-Staaten nicht gehört. Im Gegenteil: Die Gesundheitssysteme der armen Mitgliedsstaaten werden noch weiter heruntergewirtschaftet. Die Gesundheit der Mehrheitsbevölkerungen in den zunächst umworbenen neuen Mitgliedsstaaten – egal. Europäische Solidarität – nichts davon. Die muss erst noch hergestellt werden – durch uns.