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Ein Krankenpfleger geht in Schutzausrüstung durch die Covid-19-Station des Krankenhauses Bethel in Berlin an seiner Kollegin vorbeiFoto: Kay Nietfeld/dpa

Personalmangel, Zeitnot, Stress und Überlastung – die Arbeitsbedingungen in der Kranken- und Altenpflege sind dramatisch. Beschäftigte und Patient*innen sind die Leidtragenden. Ihre Sicherheit steht auf dem Spiel. Und das schon seit Jahren. Die "Konzertierte Aktion Pflege" verspricht "mehr Ausbildung, mehr Personal und mehr Geld". 2018 wurde sie gemeinsam von Gesundheits-, Arbeits- und Familienministerium ins Leben gerufen. Doch die dringend notwendige Entlastung kommt nicht bei den Beschäftigten an.

115.000 zusätzliche Stellen nötig

Das "Sofortprogramm Pflege" etwa sollte 13.000 neue Stellen in der Altenpflege schaffen. Im Sommer 2020 waren nur knapp 3.000 dieser Stellen mit Fachkräften besetzt. Insgesamt aber sind in der Altenpflege rund 115.000 zusätzliche Stellen nötig. Das hat Professor Heinz Rothgang, Gesundheitsökonom an der Universität Bremen, ermittelt. Für die Krankenhäuser geht ver.di von einem Bedarf von 100.000 zusätzlichen Pflegekräften aus.

Mit der zweiten Welle der Corona-Pandemie spitzt sich die prekäre Arbeitssituation für die Beschäftigten im Gesundheitswesen weiter zu. Pflegekräfte gehören zu den Berufsgruppen, die bis zu dreimal häufiger wegen Covid-19 krankgeschrieben werden als der Durchschnitt der Beschäftigten, so eine AOK-Statistik aus dem Sommer 2020. Das Absurde: Laut einer Ausnahmeregelung des Robert-Koch-Instituts dürfen einige Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen mit einer Corona-Infektion sogar zur Arbeit gehen. Diese "Arbeitsquarantäne" findet unter strengen Auflagen statt. Infizierte Beschäftigte dürfen nur mit ebenfalls an Covid-19 erkrankten Kolleg*innen, Patient*innen beziehungsweise Bewohner*innen arbeiten. Eine weitere Voraussetzung: Personalmangel. Und der ist in der Branche Alltag, selbst ohne eine weltweite Pandemie.

Die Beschäftigten in der Alten- und Krankenpflege erwarten von der Politik daher endlich eine nachhaltige Verbesserung der angespannten Personalsituation. Neben fairen Löhnen und einem grundlegenden Wandel in der Finanzierung des Gesundheitssystems braucht es vor allem bundeseinheitliche Vorgaben für eine bedarfsgerechte Personalausstattung. Gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat hat ver.di ein Bemessungsinstrument für die Krankenpflege vorgelegt, abgekürzt die sogenannte PPR 2.0. Heinz Rothgang, Professor am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen, hat ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur Personalbemessung in der Altenpflege entwickelt. Wie wichtig es ist, dass die Bundesregierung beide Instrumente kurzfristig auf den Weg bringt, belegen zwei Berichte aus dem Arbeitsalltag.

"Ohne die Beschäftigten wäre das System Altenpflege schon mehrfach kollabiert"

Johannes Hermann, 56, ist Altenpfleger. Er arbeitet bei der AWO in Dresden und betreut als freigestellter Betriebsrat etwa 900 Beschäftigte in sechs Pflegeheimen und drei Sozialstationen

"Die Situation in der Altenpflege ist nicht tolerabel. Wir arbeiten mit zu wenig Personal und in der Folge mit zu wenig Zeit. Pflege sollte es den Bewohner*innen ermöglichen, auch im Alter selbstbestimmt zu leben. Das bedeutet, dass wir die Menschen genau zu dem Zeitpunkt unterstützen und begleiten, zu dem sie Hilfe brauchen. Aber diese Art der Pflege ist in der Regel nicht zu leisten. Vielmehr müssen sich die Bewohner*innen den Abläufen in den Pflegeheimen häufig anpassen. Der Arbeitsalltag der Beschäftigten ist eng getaktet. Häufig stehen sie vor der Abwägung, die Pflegehandlung bei einem Bewohner für eine andere Bewohnerin unterbrechen zu müssen. Das ist Stress für die Beschäftigten. Denn ein*e Bewohner*in wartet immer auf sie.

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Johannes HermannFoto: Frank Wiemers

In der Langzeitpflege entsteht eine besondere Verbundenheit zwischen Beschäftigten und Bewohner*innen. Aufgrund dieses engen Verhältnisses gehen viele Mitarbeiter*innen an ihre Grenzen und darüber hinaus. Ohne diese Leistungsbereitschaft wäre das System Altenpflege in den vergangenen Jahren schon mehrfach kollabiert.

Und dann kam die Corona-Pandemie. Aktuell sind in einem unserer Pflegeheime 53 von 60 Bewohner*innen an Covid-19 erkrankt. Dazu sind 20 von circa 55 Beschäftigten positiv getestet worden. Viele von ihnen zeigen Krankheitssymptome. Für sie gilt ein Betretungsverbot des Pflegeheims. Die ohnehin schon zu dünne Dienstbesetzung wird so zusätzlich reduziert. Dabei bräuchten wir bei so vielen Corona-Patient*innen ja sogar mehr Personal. Denn die Betreuung ist arbeitsintensiv.

Corona-positiv getestete Mitarbeiter*innen ohne Symptome arbeiten in Einzelfällen weiter. Sie pflegen nur Bewohner*innen, die ebenfalls an Covid-19 erkrankt sind. Das ist ein Teufelskreis, und ich wünsche es mir anders. Aber wir wissen nicht, woher wir ausreichend Personal nehmen sollen. Auch der Betriebsrat gerät so in Gewissenskonflikte. Unser Arbeitgeber greift derzeit zum Beispiel auf Fremdfirmen zurück, um die Pflegekräfte in unseren Einrichtungen zu unterstützen. Dabei hatten wir die Praxis mit Leihfirmen zeitweise schon deutlich reduzieren können. Für das eben erwähnte Pflegeheim haben wir zusätzlich noch die Hilfe der Bundeswehr angefordert. Inzwischen unterstützen vier Soldat*innen die Beschäftigten, allerdings nur im Bereich der nicht-pflegerischen Tätigkeiten.

Damit die Beschäftigten in der Altenpflege nicht ausbrennen, muss ein grundlegender Systemwechsel her. Von der Politik erwartete ich deutliche Schritte nach vorne. Die bisherige Strategie der kleinstmöglichen Anpassungen ärgert mich sehr. Denn die Altenpflege ist ein wunderschöner Beruf. Könnten wir ihn unter anständigen Rahmenbedingungen mit ausreichend Zeit und Personal ausführen, würde ich mir um Nachwuchs gar keine Sorgen machen."

"Ohne Praxisanleitung findet keine Ausbildung statt, sondern Ausbeutung"

Klara Ronellenfitsch, 28, ist Gesundheits- und Krankenpflegerin in der Universitätsmedizin Mannheim. Dort arbeitet sie auf einer Knochenmarkstransplantationsstation

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Klara RonellenfitschFoto: privat

"Auf unserer Knochenmarkstransplantationsstation fällt jetzt mehr Personal aus als üblich. Bei den kleinsten Anzeichen einer Erkältung bleiben meine Kolleg*innen und ich zu Hause. Mehrmals in der Woche mache ich einen Corona-Test. Denn unsere Patient*innen sind sehr gefährdet. Rund um die Transplantation wird ihr Immunsystem quasi komplett heruntergefahren. Während des gesamten Dienstes tragen wir nun immer Schutzbrille, FFP2-Maske und in den Patientenzimmern auch Schutzkittel. Jedes Zimmer darf nur noch eine Pflegekraft zur gleichen Zeit betreten. Für körperlich anstrengende Tätigkeiten wie das Umlagern der Patient*innen fehlt also die Unterstützung einer zweiten Person. Nach zwei Stunden Körperpflege, Verbandswechsel und weiteren pflegerischen Tätigkeiten in einem Schutzkittel aus Plastik könnte ich regelmäßig duschen gehen, so sehr schwitze ich. Hinzu kommt die Angst der Patient*innen. Seit der Pandemie haben sie wesentlich mehr Angst vor einer Ansteckung. Häufiger als früher empfinden sie uns Pflegekräfte als potentielle Gefährder*innnen. Wenn aber das Vertrauen fehlt, ist das für beide Seiten eine schwierige Situation.

Schon seit Jahren müssen sich die Beschäftigten in deutschen Krankenhäusern um immer mehr Patient*innen kümmern. Dieser Personalmangel ist auf allen Stationen schwer zu kompensieren, egal ob auf einer Normalstation oder in einer Hochrisiko-Einheit, auf der grundsätzlich ein höherer Personalschlüssel gilt. Da macht man sich schon Sorgen, dass es zu Situationen kommen kann, in denen das Wohl der Patient*innen gefährdet ist.

Den Unmut der Beschäftigten über die schlechten Rahmenbedingungen in der Pflege spüren auch die Auszubildenden. Und das schreckt viele Azubis ab. Hinzu kommt die harte Ausbildung, in der man früh viel, zu viel Verantwortung übernehmen muss. Eine systematische Praxisanleitung kann häufig nicht stattfinden. Wo es an Zeit und Personal mangelt, laufen Azubis einfach mit oder werden schon als Arbeitskräfte eingeplant. Und wo keine systematische Praxisanleitung stattfindet, dort wo es keine festen Bezugspersonen für Azubis gibt, findet ganz klar Ausbeutung statt Ausbildung statt. In der Pflege gibt es immer wieder Extrem-Situationen, etwa wenn ein*e Patient*in verstirbt. Das muss gut nachbereitet werden. Dafür fehlt oft die Zeit. Wir brauchen uns also nicht zu wundern, dass viele junge Menschen den Pflegeberuf wieder verlassen. Aber auch viele gestandene Fachkräfte kehren ihrem Beruf in den Kliniken den Rücken. Nicht nur an unserer Klinik bleiben viele der ausgeschriebenen Stellen unbesetzt. Corona hat diese Entwicklung nochmals verschärft.

Von der Politik erwarte ich, dass sie Anreize für Fachkräfte schafft, um im Pflegeberuf zu bleiben oder in die Pflege zurückzukehren. Ich stelle mir da vor allem eine gesetzliche bedarfsgerechte Personalbemessung auf allen Stationen vor."