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Foto: imago images/Hoch ZweiStock/Angerer

Wolfgang Schorlau: Kreuzberg Blues

"Es reicht nicht mehr, persönlich anständig durchs Leben zu gehen. Heute muss sich ein guter Mensch einmischen. Die Katastrophe verhindern. Aktiv sein. Das Böse sehen. Das Böse bekämpfen. Demonstrieren." Diesem Zitat aus Wolfgang Schorlaus neuem Thriller stimmt man nach der Lektüre sofort zu. Denn das Buch rüttelt auf, und es zeigt: Es muss sich etwas ändern. Schnell. Sonst geht der Wahnsinn auf dem Wohnungsmarkt weiter, und noch weniger Menschen können sich in Zukunft die steigenden Mieten leisten.

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Wolfgang Schorlau hat aus der aktuellen Debatte um bezahlbaren Wohnraum einen packenden Plot gebastelt, in dem sich Finanzmanager, Bauunternehmer, Kriminelle, Aktivisten, Mietrechtler, Spekulanten und Politiker gegenseitig Druck machen. Im Mittelpunkt des Romans steht der Stuttgarter Privatermittler Georg Dengler, der diesmal, in seinem zehnten Fall, in Berlin recherchiert. Eigentlich soll er nur klären, ob ein berüchtigter Immobilienmogul seine Mieter mit kriminellen Methoden rausekelt. Doch schon bald ist Dengler klar, dass der Wohnungsmarkt völlig aus den Fugen geraten ist. Skrupellose Investoren und raffgierige Bauunternehmer steigern ihre Renditen auf Kosten der Mieter. Zigtausende Wohnungen wurden vom damals rot-rot geführten Berliner Senat, namentlich dem umstrittenen Thilo Sarrazin, zu Spottpreisen an dubiose Konzerne verscherbelt. Ein Skandal mit weitreichenden Folgen, den Dengler durch seine neuen Ermittlungen aufdecken will.

Wolfgang Schorlau schreibt schnell und lässig, im Stil einer verdichteten Sozialreportage, über den modernen Berliner Häuserkampf. Er geht auch der Frage nach, warum Menschen rücksichtslos Mieter ausbeuten, warum sie für Geld alles tun und Moral für sie ein Fremdwort ist. Zudem blickt er hinter die Fassade einer nationalistischen Geheimorganisation, die die Diskussionen um Mieten und Corona für ihre Zwecke missbraucht und versucht, die Stimmung in der Bevölkerung in ihrem Sinne zu drehen.

Ein Musterbeispiel für einen hochaktuellen Polit-Thriller, der gesellschaftliche Missstände aufgreift und Stellung bezieht. In nahezu jeder Zeile spürt man beim Lesen, wie sehr den Autor das Thema umtreibt. Im Nachwort schreibt Schorlau: "In vielen Städten bilden Mieter nun Bürgerbewegungen, die die Rückführung der Wohnungen in öffentliches oder genossenschaftliches Eigentum fordern. Sie haben recht. Ihnen ist dieses Buch gewidmet."

Günter Keil

Sozial-Thriller, Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten, 22 Euro

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Victor Klemperer: Licht und Schatten

"Ich bin so sehr gern im Kino", verrät Victor Klemperer, "es entrückt mich." Der namhafte Romanist und Sohn eines Rabbiners analysierte in seinem berühmten Buch LTI die Hetzreden der Nazis und zeigte das Durchsickern der braunen Ideologie in die Alltagssprache. Gleichzeitig war der Literaturwissenschaftler ein leidenschaftlicher Cinéast. Sein erhellendes "Kinotagebuch 1929–1945" zeugt davon. Es ist eine Kunst, deren Magie ihm zunächst Trost spendet. Er erlebt, wie die technische Neuerung Einzug hält. Nicht selten geht er mehrmals pro Woche ins Kino. Doch seine Begeisterung verstellt ihm nie den Blick. In einer funkelnden Sprache analysiert er die gesehenen Filme. Marlene Dietrich findet er im Blauen Engel "fast noch besser als Jannings". Sein Gespür für schauspielerische Leistung ist untrüglich. Zunehmend aber vereinnahmen die Nazis das Medium, bis ihm auch das Kino keinen Schutzraum mehr bietet. In den Wochenschauen sieht er die Aufmärsche und Hitler-Reden. "Genial verstehen sie sich auf die Reklame", beobachtet er. Bereits hier sammelt er Material für sein LTI. Einzigartig zeigt das leidenschaftliche Bekenntnis des Kinomanen den Film als Spiegel deutscher Geschichte. Luitgard Koch

Verlag Aufbau, 363 Seiten, 24 €

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Der Hamburger Hafen um 1900

Ein Fotojournalist diniert beim Nachbarn, der zum Dessert einen Holzschuber mit 170 Abzügen von Daguerrotypien aus dem Hamburger Hafen auftischt, die sein Ur-Opa, der Chemiker Dr. Franz Schmidt, angefertigt hat. Die Bleiplatten sind hin, die Abzüge aber von exzellenter Qualität, ein Verlag ist schnell gefunden. Zumal den Fotos detaillierte Bildbeschreibungen aus jener Zeit beiliegen. Denn gerade für diese historischen Fotos, die vordergründig alte und teils längst verschüttete Hafenanlagen, Dalben, Dampfkräne und Schiffe zeigen, gilt: Man sieht nur, was man weiß. Und so dokumentiert und erläutert dieser Rundgang von den St.-Pauli-Landungsbrücken bis nach Entenwerder auch den Kosmos der teils unmenschlichen Tätigkeiten an diesem oft verklärten Arbeitsplatz: von den "Schietgängs", den armseligen Kesselreinigern, bis hin zum schnieken Festangestellten der Speicherstadt. Weiteren Hintergrund über Löhne, Streiks und Gewerkschaften liefert das Vorwort, auf einer Hafenkarte sind die jeweiligen Positionen des Fotografen markiert. Staunend folgt man seinem Blick auf diese versunkene Arbeitswelt aus diversen Perspektiven. Bedenkt man Dauer und Aufwand beim Aufbau der Kamera und die lange Belichtungszeit, entpuppt sich auch die Erschaffung dieser Bilder als ein immenser Kraftakt.

Jenny Mansch

Dr. Franz Schmidt und Otto Kofahl, Dölling und Galitz Verlag, 224 S., 49,90 €