Ausgabe 01/2021
Afrikanisches Freihandelsabkommen: Nutznießer sind die Großen
Mit einer Freihandelszone, die nahezu den gesamten Kontinent abdeckt, wollen Afrikas Regierungen die wirtschaftliche Entwicklung antreiben und schließlich ein Zusammenwachsen der in vielen Fällen einst von europäischen Kolonialmächten am Reißbrett getrennten Länder fördern. Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist das entsprechende Abkommen, das African Continental Free Trade Agreement (AfCFTA), bereits offiziell in Kraft. Außer Eritrea haben sämtliche 55 afrikanischen Staaten das Abkommen unterzeichnet, 34 haben es bisher ratifiziert.
Zwar hakt es derzeit noch mit der Umsetzung, weil längst nicht alle Herkunftsregeln und Zollstreichungen verhandelt sind, doch die politisch Verantwortlichen preisen das AfCFTA schon jetzt als historisch. Das Freihandelsabkommen werde "das wirtschaftliche Schicksal unseres Kontinents fundamental verändern", erklärte Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa, der noch bis Mitte Februar den jährlich rotierenden Vorsitz der Afrikanischen Union (AU) innehat, in seiner Silvesteransprache.
Auch die Ökonomen der Weltbank sagen Afrika eine strahlende Zukunft voraus. Die Freihandelszone, gemessen an der Zahl der Teilnehmerländer die größte weltweit, werde Staaten mit einem Bruttoinlandsprodukt von insgesamt 3,4 Billionen US-Dollar (2,8 Billionen Euro) zusammenbringen. Das Gesamteinkommen dieses Wirtschaftsraums werde durch den Freihandel um 450 Milliarden US-Dollar (370 Milliarden Euro) steigen, prognostizierte die Weltbank in einem im vergangenen Juli veröffentlichten Bericht. Auch die sozialen Auswirkungen werden darin mit Zahlen versehen: "Das AfCFTA stellt eine große Chance für afrikanische Länder dar, 30 Millionen Menschen aus extremer Armut zu befreien und die Einkommen von 68 Millionen weiteren zu steigern, die derzeit von weniger als 5,50 US-Dollar pro Tag leben", heißt es in der einleitenden Zusammenfassung des Papiers.
"Ich kenne kein Freihandelsabkommen, das jemals ernsthaft das Problem der Beschäftigtenrechte behandelt hat."
Murray Leibbrandt, Wirtschaftsprofessor an der Universität Kapstadt
Wer profitiert und wer nicht
Grundlage der positiven Prognosen ist die Hoffnung, durch das Streichen von Zollschranken zunächst den Handel zwischen afrikanischen Ländern anzukurbeln. Zudem soll der große gemeinsame Markt Investoren anlocken, die Produktionskapazitäten auf dem Kontinent selbst aufbauen. Mit der Freihandelszone wollen Afrikas Staatenlenker so die Industrialisierung in ihren Ländern voranbringen, anstatt hauptsächlich Rohstoffe auszuführen und fertige Produkte zu importieren.
Die aktuellen Handelszahlen lassen diesen Fokus logisch erscheinen: Lediglich 16 Prozent der Exporte afrikanischer Staaten gehen nach Zahlen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Afrika (UNECA) in andere Länder auf dem Kontinent. In der Europäischen Union liegt dieser Wert viermal so hoch. Angesichts der Tatsache, dass der Anteil an Industriegütern im innerafrikanischen Handel doppelt so hoch ist wie bei den Exporten nach Übersee, scheint das wirtschaftliche Entwicklungspotential eines gemeinsamen kontinentalen Marktes nahezu unbestreitbar. Ungeklärt bleibt dabei allerdings, wer vom Aufschwung profitiert – und wer nicht.
Denn den sogenannten Trickle-Down-Effekten, die die Weltbank den Ärmsten vorhersagt, stehen massive Herausforderungen für schwächere Volkswirtschaften, kleinere Unternehmen und nicht zuletzt Beschäftigte entgegen. "Das Problem mit den ökonomischen Analysen dieser Freihandelszonen ist, dass sie immer versuchen herauszuarbeiten, ob die Wirtschaftsleistung auf dem Kontinent insgesamt wächst", sagt Murray Leibbrandt, Wirtschaftsprofessor an der Universität Kapstadt und Inhaber der Professur der südafrikanischen National Research Foundation für Armuts- und Ungleichheitsforschung. Dass die Wirtschaftsaktivitäten zunähmen, sei bei gesteigerter Mobilität nahezu sicher, führt er aus, warnt aber: "Bei diesen Handelsmodellen gibt es immer Gewinner und Verlierer."
Ganze Branchen zum Niedergang verurteilt
Leibbrandt sieht Probleme auf mehreren Ebenen. Zum einen könnten kleinere Volkswirtschaften gegenüber größeren ins Hintertreffen geraten und ganze Branchen in manchen Regionen so zum Niedergang verurteilt sein. Zudem sei die von politischen Entscheidungsträgern hervorgehobene Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht mit dem ebenfalls ausgegebenen Ziel vereinbar, große Industrien aufzubauen. "Die Praxis dieser Abkommen ist, dass die größeren, besser ausgestatteten Unternehmen die ersten Nutznießer sind. Und das führt nicht zu mehr Gleichheit, es ist sehr schwer, darin etwas Ausgleichendes zu erkennen", so Leibbrandt.
Er bemängelt zudem das Fehlen sozialer Schutzmechanismen und Grundregeln. "Ich kenne kein Freihandelsabkommen, das jemals ernsthaft das Problem der Beschäftigtenrechte behandelt hat, weil es zu kompliziert ist", sagt Leibbrandt. In der Regel werde es den Einzelstaaten überlassen. "Weil man aber nun den freien Warenverkehr hat, führt das implizit dazu, dass der Druck auf Beschäftigtenrechte in den Ländern steigt, die diese Rechte schützen."
In der Praxis könne dies dazu führen, dass die Produktion in einer Branche insgesamt steige, was dann wie ein Erfolg erscheine. "Nicht gesehen wird dabei aber, dass damit ein völliger Wandel der Arbeitsbeziehungen einhergehen kann und dass Arbeiter ohne jeglichen Schutz Beschäftigte ersetzen, die geschützt waren." Das als emanzipatorisches Projekt für den Kontinent angekündigte Abkommen droht so in einen Unterbietungswettkampf bei Sozialstandards zu führen, von dem letztlich vornehmlich große Unternehmen profitieren.
"Ich kenne kein Freihandelsabkommen, das jemals ernsthaft das Problem der Beschäftigtenrechte behandelt hat"
Das ganze Interview mit Murray Leibbrandt über die Folgen des Afrikanischen Freihandelsabkommens AfCFTA für schwächere Volkswirtschaften, kleinere Unternehmen, Arbeitsrechte und Löhne
ver.di publik: Im Zentrum der Loblieder auf das afrikanische Freihandelsabkommen AfCFTA stehen potentielle Wirtschaftsentwicklung, Wachstum und Arbeitsplatzschaffung. Was aber bedeutet ein gemeinsamer Markt für die Gleichheit auf dem Kontinent – zwischen Mitgliedsländern, aber auch zwischen den Menschen?
Murray Leibbrandt: Das Problem mit den ökonomischen Analysen dieser Freihandelszonen ist, dass sie immer versuchen herauszuarbeiten, ob die Wirtschaftsleistung auf dem Kontinent insgesamt wächst. Wenn von Wirtschaftswachstum die Rede ist, dann ist gemeint: Macht der Kontinent mehr? Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: Wenn man die Mobilität freier gestaltet, dann fördert das, das mehr gemacht wird. Das große Problem ist aber: Bei diesen Handelsmodellen gibt es immer Gewinner und Verlierer. Ein Nettozuwachs an Wirtschaftsaktivität auf dem Kontinent kann also alles Mögliche bedeuten. Ich denke, was die Verantwortlichen im Kopf haben, ist ein Best-Case-Szenario: Darin gibt es ein paar Blumenproduzenten in Äthiopien, die sind die besten auf dem Kontinent und die exportieren an alle anderen. Die südafrikanische Finanzbranche ist vielleicht die Beste im Wirtschaftsraum, also bietet sie Dienstleistungen quer durch den Kontinent an. In Ghana machen sie wieder etwas anderes besser als alle anderen. Die Idee ist letztlich, dass jedes Land etwas hat, mit dem es auftrumpfen kann. Aber das bedeutet natürlich auch, dass es andere Bereiche in jedem einzelnen Land gibt, die durch Importe von anderswoher ersetzt werden. Selbst in diesem Best-Case-Szenario wird es also innerhalb der Länder große Gewinner und Verlierer geben. Das alternative Szenario: Wenn man sich Afrika im Rahmen des Welthandels ansieht, dann war der Welthandel bisher nicht sonderlich ausgeglichen und wurde immer unausgeglichener. Wenn man an den Kolonialismus denkt -– Handel findet ja nicht einfach außerhalb der Geschichte oder außerhalb eines Rahmens der politischen Ökonomie statt. Wenn dieses Freihandelsabkommen bedeutet, dass Südafrika einfach über den Kontinent trampeln und tun kann, was es will, dann entfernt man sich ziemlich weit vom Best-Case-Szenario. Einiges davon ist nach 1994 (Ende der Apartheid in Südafrika, d. Red) bereits passiert. South African Breweries, SAB, fing an, sämtliche Brauereien auf dem Kontinent zu übernehmen. Sie haben es nicht ganz geschafft, aber wenn man 1999 in Uganda ein Bier trinken wollte, dann hieß das zwar noch "Tusker" – die lokale Marke –, aber hergestellt wurde es von SAB. Solche Dinge hat es also schon gegeben, aber bisher war das auf dem Kontinent sehr kontrolliert, weil die Länder den Handlungsspielraum hatten, mitzumachen oder eben nicht. Sie konnten ihre Handelsrestriktionen nutzen, um ihren eigenen Weg zu gehen.
ver.di publik: Zusammengefasst bedeutet das also, dass auf einem unregulierten Markt die größeren, stärkeren Akteure profitieren?
Leibbrandt: Sie haben ja auch nach der individuellen Ebene gefragt. In diesem Szenario wird es einige komplette Länder geben, die zu kämpfen haben werden, überhaupt irgendetwas beizusteuern. Innerhalb jedes Landes bedeutet es zudem eine äußerst umfangreiche Restrukturierung. Selbst in Südafrika, wenn das Modell perfekt funktioniert, werden wir wahrscheinlich Nahrungsmittel aus vielen Ländern importieren. Denken Sie also darüber nach: Wer wird dabei in Südafrika verlieren? Werden wir das zulassen? Und das ist nur die südafrikanische Sicht. Für Länder wie Äthiopien oder Uganda sieht es viel schlechter aus, selbst Länder, die einige Fortschritte erreicht haben, können zu Verlierern werden. Die Frage ist dann, was wir dagegen tun. Es gibt aber keinerlei Mechanismus, das afrikanische Freihandelsabkommen ist an keinerlei afrikanische soziale Sicherung gekoppelt. Darüber gibt es überhaupt keine Debatte.
ver.di publik: Ein Argument für das Freihandelsabkommen ist es ja, Skaleneffekte zu erzielen, für Auslandsinvestitionen attraktiv zu werden aufgrund eines größeren Marktes. Ein weiterer Punkt, den die politischen Entscheidungsträger immer wieder hervorheben, ist die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, sowie von Frauen und jungen Menschen. Wie gehen diese beiden Punkte zusammen?
Leibbrandt: Gar nicht, auf panafrikanischer Ebene, wirklich gar nicht. Bei den kleineren und mittleren Betrieben geht es darum, wie sie im ökonomischen Rahmen und in der Wirtschaftspolitik eines Landes integriert werden. Wie passt das nun zum Freihandelsabkommen? In der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika, SADC, gab es immer eine explizite Diskussion über Kompensationsmechanismen. Die hießen dann nicht Zölle, sondern eher Quoten, aber es wurde ausdrücklich anerkannt, dass man nicht einfach alles für den Freihandel öffnet, sondern das schrittweise und bewusst macht. In der SADC passieren zwei Dinge: Erstens, sie schützen im Prinzip einige Teile des südlichen Afrikas vor Südafrika (der am stärksten entwickelten Volkswirtschaft des Kontinents, Anmerk. Red.), entweder durch Zoll-ähnliche Regeln oder durch explizite Quoten, die besagen, welche Güter nicht aus Südafrika importiert werden können. Und es gibt einen Kompensationsmechanismus, es gibt das SADC-Sekretariat und insbesondere die Zollunion des Südlichen Afrika, SACU, eine kleinere Gruppe von Ländern, hat ein Sekretariat, in dem Südafrika einzahlt. Dieses Geld wird dann in der Region verteilt. Das bedeutet nicht immer, dass auch die richtigen Leute die Kompensationen bekommen, aber zumindest gibt es einen Fluss von Fördermitteln, der dieses Ziel hat. Es ist wie eine nationale Regierung, die Steuern erhebt, die dann verwendet werden, um Kompensationen für die Menschen zu leisten, die zu den Verlierern gehören. Ich weiß nicht, was im Rahmen des Afrikanischen Freihandelsabkommen dazu diskutiert worden ist. Ich denke: nicht sonderlich viel.
ver.di publik: Es gibt eine vage Ankündigung, dass Frauen bei Auftragsvergaben bevorzugt werden sollen. Klare Regeln dazu konnte ich bisher nicht finden. Wenn diese aber nicht existieren, warum wird dieser Punkt dann so sehr in den Vordergrund gerückt?
Leibbrandt: Es gibt einige Menschen, die wirklich an die Kraft des Marktes glauben, um institutionelle Barrieren aufzubrechen. Wenn man diese Perspektive im Kopf hat, dann denken die Leute manchmal: Okay, Afrika ist voll von institutionellen Schranken, die Frauen benachteiligen. Wenn wir also den Freihandel eröffnen und die Kräfte des Marktes durch die Länder fegen, dann müssen diese talentierten Frauen sich nicht mehr so viel mit ihren Regierungen rumschlagen, weil sie Alternativen auf dem Kontinent bekommen. Das ist die Rhetorik, dass diese Freihandelsabkommen institutionelle Mauern einreißen, die von Einzelstaaten aufgebaut wurden. Aber das ist äußerst naiv, denn der gesamte Prozess des Produzierens und Exportierens von Gütern stellt diese institutionellen Mauern dar. Das ist nicht irgendeine theoretische Geschichte, wo ländliche Stammesautoritäten einfach Nervensägen sind und plötzlich verlieren sie all ihre Macht. Die Beschaffenheit des Wirtschaftslebens macht diese Prozesse aus. Wie sollen Frauen Waren aus ländlichen Gegenden herausbekommen – außer über die normalen Lieferwege, die völlig durchsetzt sind mit diesen institutionellen Hürden? Die unmittelbaren Gewinner werden andere sein. Wenn die Entscheidungsträger die Förderung von Frauen und Kleinunternehmen ernst meinen, dann müssen sie sich auf Fördermaßnahmen einigen, dann müssen sie einen entsprechenden Güterfluss aktiv anregen, damit wir diese Resultate sehen, sonst wird das nicht passieren.
ver.di publik: Wir haben über Unternehmer verschiedener Größenordnungen gesprochen, über unterschiedlich starke Branchen und Volkswirtschaften. Aber wenn wir eine Ebene tiefer gehen, was sind denn die Konsequenzen des Freihandelsabkommen für Beschäftigtenrechte, Arbeitsbedingungen, Ansprüche an Mobilität und Flexibilität sowie für die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Organisierung?
Leibbrandt: Die Frage hätte eigentlich vorab geklärt werden müssen. Selbst im Südlichen Afrika ist es so: Wenn man die Leute über den Wettbewerbsvorteil von beispielsweise Swasiland oder Botswana reden hört, dann sagen die: 'Das ist ein Weg, um die südafrikanischen Gewerkschaften zu umgehen.' Sie verlagern die Produktion und bauen die Textilfabrik woanders wieder auf. Dazu gibt es jede Menge Literatur. Es ist sehr schwer, irgendetwas anderes als erhöhten Druck auf Beschäftigtenrechte vorherzusehen. Wenn man eine Freihandelszone richtig angehen will, dann muss man sie fast als Regierung sehen. Man braucht zumindest grundlegenden Schutz, man braucht ein Gesetz zu grundlegenden Arbeitsbedingungen. Man muss sich auf Mindeststandards in der Produktion einigen, denn sonst wird das die Quelle der Wettbewerbsvorteile mancher Länder. Ein klassisches Argument, um diesen Punkt zu untermauern: Wenn man ein Freihandelsabkommen wie dieses neue Afrikanische Freihandelsabkommen beschließt, dann bedeutet das, dass man ausschließt. Man versucht, den Fokus auf afrikanische Produktion zu legen und gegenüber etwa chinesischen Importen versucht man, den afrikanischen Volkswirtschaften eine bessere Chance zu geben, diese Güter selbst herzustellen. Aber das hat einen Preis, und der Preis ist der, dass wir möglicherweise nicht so konkurrenzfähig sind wie die Chinesen. Wenn man sich also nicht um Arbeitsrechte kümmert, aber sehr darum besorgt ist, dass die Konsumenten den billigsten Preis bekommen, dann ist das Freihandelsabkommen nur eine Kostenfrage. Es ermöglicht dem billigsten afrikanischen Produzenten, an jeden zu liefern. Ich kenne kein Freihandelsabkommen, das jemals ernsthaft das Problem der Beschäftigtenrechte behandelt hat, weil das zu kompliziert ist. Normalerweise sagen sie einfach, okay, das ist Sache der einzelnen Länder. Weil man aber nun den freien Warenverkehr hat, führt das implizit dazu, dass der Druck auf die Rechte von Beschäftigten in den Ländern steigt, die diese Rechte schützen.
“Nicht gesehen wird dabei aber, dass damit ein völliger Wandel der Arbeitsbeziehungen einhergehen kann und dass Arbeiter ohne jeglichen Schutz Beschäftigte ersetzen, die geschützt waren.“
ver.di publik: Also werden wir einen Unterbietungswettkampf bei Löhnen und Beschäftigtenrechten sehen?
Leibbrandt: Genau. Die südafrikanischen Unternehmer reden die ganze Zeit so, sie sagen, dann könnten wir global konkurrieren. Und auf gewisse Weise könnte das Freihandelsabkommen so zumindest wirtschaftliche Aktivitäten an neue Orte ausweiten, aber der Grund dafür ist das Produktionsregime. Die Ökonomen bewerten es dann so: Wenn es eine Steigerung der Produktion gibt und eine Steigerung der Produktion in beispielsweise Malawi, dann ist das wahrscheinlich ein Doppelgewinn. Das ist es, was die Leute meinen, wenn sie davon sprechen, dass das Freihandelsabkommen funktioniert. Nicht gesehen wird dabei aber, dass damit ein völliger Wandel der Arbeitsbeziehungen einhergehen kann und dass Arbeiter ohne jeglichen Schutz Beschäftigte ersetzen, die geschützt waren.
ver.di publik: Es gab Kritik daran, dass Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen lediglich eingeschränkte bis gar keine Möglichkeiten hatten, an der Gestaltung des Freihandelsabkommens mitzuwirken. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Leibbrandt: Ich war nicht wirklich involviert in diese Diskussionen. Diese Verhandlungen finden auf Regierungsebene statt. Die Frauen, die sie vorhin angesprochen haben, über deren Förderung so viel geredet wurde, ich wette mit Ihnen, nicht eine von denen hatte irgendeine Stimme in der Diskussion, denn die hätten eine wesentlich differenziertere Perspektive gehabt, aufbauend darauf, wie ihr Leben tatsächlich funktioniert. Das heißt nicht, dass sie es abgelehnt hätten, aber die hätten gesagt: Meinen Sie etwas, das tatsächlich zu meinen wirklichen Lebensumständen passt oder werden sie einfach nur Grenzen öffnen?
ver.di publik: Noch einmal zu den Gewerkschaften: Mit Ausnahme der Nigerian Labour Federation waren die Reaktionen auf das Freihandelsabkommen eher rar gesät und stumm. Können Sie erklären, warum?
Leibbrandt: Ich denke, das hat mit dem vorherigen Punkt zu tun. Diese Freihandelsabkommen werden auf kontinentaler Ebene verhandelt. Das passiert auf einer sehr hohen Ebene, ohne große Integration. Ich glaube, es gab zu der Frage, mit welchen Vorschlägen die südafrikanische Delegation in die Verhandlungen gehen soll, nicht einmal eine ernsthafte Debatte im südafrikanischen Parlament. Das ist auch meine Erklärung dafür, warum die Gewerkschaften sich nicht einbringen. Denn oft sind diese Freihandelsabkommen auch einfach Augenwischerei. Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll. Es ist wie eine Vortäuschung einer Art afrikanischer Initiative. Diesmal scheint es mir aber ernster zu sein als sonst, denn es kann plötzlich sehr weitreichende Konsequenzen haben. Aber all diese panafrikanischen Initiativen sind sehr langwierig, das heißt, es ist sehr aufwändig sich einzubringen, während es zugleich nicht eindeutig absehbar ist, dass auch nur irgendjemand diese Sache ernst nimmt, zumindest nicht in den nächsten Jahren.
ver.di publik: Also sehen die Gewerkschaften keine große Gefahr in dem Freihandelsabkommen, weil sie glauben, dass es – wie viele Initiativen zuvor – versandet?
Leibbrandt: Richtig. Oder sie denken sich, der Umsetzungsplan ist so langsam, da passiert zunächst mal nicht viel, also konzentrieren wir uns lieber auf unsere aktuellen Kernthemen – und wenn es anfängt, wirklich in der Praxis in unserem Kontext zum Problem zu werden, dann schlagen wir Alarm. Es ist nicht einfach: In manchen Verhandlungen mit der Regierung sind die Gewerkschaften unglaublich gut vorbereitet, viel besser als die Wirtschaftsfachleute der Regierung. Aber wenn man in seiner Analyse besser ist als alle anderen, dann kann das auch bedeuten, dass man es ernster genommen hat als alle anderen momentan. Und das erfordert ernsthaften Aufwand, also muss man seine Schlachten mit Bedacht wählen. Ich denke nicht, dass das Freihandelsabkommen business as usual ist. Letztendlich wird das wirklich wichtig werden. Aber keiner von uns kann bisher wirklich verstehen, wie es in der Praxis aussehen wird. Es ist in etwa so, dass die Grundlagen vereinbart sind, aber die wirkliche Praxis, die Ebene, auf der all die harten Verhandlungen stattfinden, die ist noch größtenteils unklar.
“Unter den herrschenden Verhältnissen auf dem Kontinent kann ich jedenfalls kein Argument dafür erkennen, wie dieses Abkommen ausgleichend wirken kann.“
ver.di publik: Was denken Sie denn, werden auf der untersten Ebene die Folgen für Einkommensgleichheit und Wohlstand sein?
Leibbrandt: Die Praxis dieser Abkommen ist, dass die größeren, besser ausgestatteten Unternehmen die ersten Nutznießer sind. Und das führt nicht zu mehr Gleichheit, es ist sehr schwer, darin etwas Ausgleichendes zu erkennen. Es mag vielleicht Vorteile für Konsumenten geben, Dinge billiger zu bekommen. Aber auf der Ebene von Löhnen und wirklicher Wirtschaftsaktivität, wirkt so etwas niemals ausgleichend. Das ist auch nicht einmal in der Theorie die Absicht. Es soll Strukturen in existierenden Märkten aufbrechen, aber die Tatsache, dass es die sehr großen, konkurrenzfähigen Akteure sind, die wirklich einsteigen und agieren können, ist exakt die Ursache von Ungleichheit. Man kann nun darum feilschen, wie sehr es die Ungleichheit verstärken wird, da liegt der Teufel im Detail, aber ich kann nicht ein Argument dafür erkennen, dass es ausgleichend wirken würde. Das Argument verstehe ich einfach nicht. Die Möglichkeit, unsere Infrastruktur zu verbessern, um den Handel und jegliche Interaktionen zwischen unseren Ländern anzukurbeln, die hatten wir schon immer. Man braucht keine Freihandelszone, um für die Verbesserung der Infrastruktur auf dem Kontinent einzutreten – und ich denke, das ist von essentieller Bedeutung für jegliche Entwicklungsagenda. Aber dafür braucht es kein Freihandelsabkommen, das ist etwas vollkommen anderes. Unter den herrschenden Verhältnissen auf dem Kontinent kann ich jedenfalls kein Argument dafür erkennen, wie dieses Abkommen ausgleichend wirken kann. Interview: Christian Selz, Kapstadt
Zur Person: Murray Leibbrandt ist Professor an der Wirtschaftsfakultät der Universität Kapstadt und Direktor der Southern Africa Labour and Development Research Unit (SALDRU). Er ist Inhaber der Professur der südafrikanischen National Research Foundation für Armuts- und Ungleichheitsforschung und ist Forschungsstipendiat des deutschen Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA)