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Spanien ist von der Corona-Pandemie auch wirtschaftlich stark betroffen
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Rezeptionist Miguel Ortiz
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Freiwillige Helferin Yolanda Juaros
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Vertrauensmann Luis Mancera
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Eva Mejillas, Witwe und Mutter von drei Kindern, hat gerade den Räumungsbefehl für ihre Wohnung bekommen
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Das Zendal wurde extra für Covid-Patienten gebaut, jetzt fehlt das Personal
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Aktivistin Mercedes Revuelta
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Gewerkschafter Chema Martínez
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Madeleine und Virginia Tejada stehen für kostenlose Lebensmittel an

Miguel Ortiz stellt eine überraschende Frage. "Ist dir schon einmal aufgefallen, dass Hotels weder Rollläden noch Gitter zum Herunterlassen haben?", fragt er angesichts der riesigen, nur spärlich beleuchteten Glasfront des "Madrid Center", einem der großen Hotels in der Madrider Innenstadt. "Es ist einfach nicht vorgesehen, dass Hotels schließen, deshalb brauchen sie sowas gar nicht", löst der 59-Jährige, der es vom Laufburschen mit 14 Jahren zum Concierge und dann zum Rezeptionisten gebracht hat, die Frage selbst auf. Er ist gekommen, um seinen Kollegen in der halbdunklen leeren Empfangshalle "Hallo" zu sagen. Es sind nur wenige: Wachdienst und Instandhaltung; der Rest ist seit März in Kurzarbeit. Das Hotel hat wegen der Corona-Pandemie geschlossen.

"Eine solche Krise habe ich noch nie erlebt. Selbst das Palace ist dicht", sagt Miguel. Dass sogar das bekannteste Hotel der spanischen Hauptstadt zugemacht hat, ist für ihn, der sein ganzes Arbeitsleben im Hotelgewerbe tätig ist, das Symbol für die Covid-Krise schlechthin. Es ist erst die zweite Schließung in der Geschichte der Luxusherberge, die einst, bei ihrer Einweihung 1912 mitten im Zentrum der spanischen Hauptstadt, das größte Hotel Europas war. Nur während des spanischen Bürgerkrieges in den 1930er Jahren musste das Palace schon einmal schließen.

Miguel selbst ist seit Ende März letzen Jahres in Kurzarbeit. Wie das Palace haben auch das "Madrid Center" und mit ihm 80 Prozent der hauptstädtischen Hotels die Belegschaft in Kurzarbeit geschickt. Die restlichen Hotels sind mit rund acht Prozent Buchungen weit davon entfernt, rentabel zu sein.

Als im März der totale Lockdown angeordnet wurde, reagierte die Koalitionsregierung der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) und der linksalternativen Unidas Podemos (UP) unter Ministerpräsident Pedro Sánchez schnell. Erstmals in der Geschichte Spaniens wurde mit Unternehmensverbänden und Gewerkschaften ein ehrgeiziges Kurzarbeitsprogramm für ganze Branchen ausgehandelt. Die betroffenen Unternehmen bekommen je nach Größe einen Teil oder die gesamten Sozialabgaben erlassen, die Abgaben der Beschäftigten übernimmt das Arbeitsamt. Im Gegenzug darf nach Ende der Kurzarbeit in einem Zeitraum von sechs Monaten niemandem gekündigt werden.

Die Beschäftigten erhalten, was sie auch im Falle der Arbeitslosigkeit beziehen würden. "Es sind 70 Prozent des Gehalts, jedoch gibt es einen Höchstbetrag", erklärt Miguel die Regelung, der er bereits seit zehn Monaten unterliegt. Er verdient im Normalfall 2.700 Euro brutto pro Monat. Allerdings erhält er nur 1.098 Euro Kurzarbeitergeld. "Das ist die Obergrenze für Alleinstehende ohne Kinder", sagt Miguel. "Zum Glück habe ich Erspartes, denn sonst müsste ich jemanden um Hilfe bitten." Bei 680 Euro Miete im Monat wird es eng. Doch ist Miguel nicht verärgert: "Ohne Kurzarbeitsprogramm wären wir wohl entlassen worden. So wie es jetzt läuft, behalte ich zumindest meinen Arbeitsplatz und bin wieder dabei, sobald die Krise um ist."

Vorerst eine Million Arbeitsplätze gerettet

"Das Kurzarbeiterprogramm ist der große Unterschied zur Eurokrise 2008", sagt Chema Martínez (57), Generalsekretär der Dienstleistungsgewerkschaft beim größten Gewerkschaftsverband Spaniens, den Arbeiterkommissionen CCOO. Das Bruttoinlandsprodukt ging 2020 durch die Pandemie um elf Prozent zurück, die Arbeitslosigkeit stieg auf 15 Prozent. "Es gingen rund 900.000 Arbeitsplätze verloren. Ohne die Maßnahmen der Regierung wären es sicher um die 2,5 Millionen gewesen." Das zeige, so Chema, die Erfahrung. Noch immer sind 700.000 Beschäftigte in Kurzarbeit. Die meisten haben bisher im Hotelgewerbe und anderen Bereichen des Tourismus gearbeitet.

79 Prozent derer, die im Laufe der Covid-Pandemie von Kurzarbeit betroffen waren, sind bereits zurück am Arbeitsplatz. Neben Industrie und Bauwirtschaft sind dies fast alle Beschäftigten im Einzelhandel, der in den Monaten des Lockdowns bis auf die Grundversorgung geschlossen war. Allerdings zeichnet sich dort, jetzt wo die dritte Infektionswelle das Land ergreift, eine erneute Krise ab. Regionen wie die Balearen oder Katalonien haben bereits wieder alles bis auf die Grundversorgung geschlossen. Andere könnten schon bald folgen.

Das dritte Kurzarbeitsprogramm soll bis Ende Mai gelten. "Dann stabilisiert sich die Lage hoffentlich dank der Impfkampagne", sagt Chema. Dennoch brauche es ein viertes und hoffentlich letztes Abkommen zwischen Regierung und Sozialpartnern. Dieses müsse so flexibel sein, dass die Beschäftigten nach und nach an ihren Arbeitsplatz zurückkehren könnten.

Aus dem System gefallen

Doch die Krise im Dienstleistungssektor geht weit über das hinaus, was Gewerkschaften regeln können. Vier von zehn Beschäftigten arbeiten unter prekären Verhältnissen. Sie haben keinen ordentlichen Vertrag oder nur über wenige Stunden und zu sehr niedrigen Löhnen. Sie waren die ersten, die jetzt in der Covid-Krise aus dem System gefallen sind.

Es ist Samstagmorgen. Im Arbeiterviertel von Aluche im Südwesten Madrids stehen Dutzende Menschen geduldig vor einem Lokal in einem Wohnblock aus den 1960er Jahren an. "Wir verteilen seit Frühjahr jede Woche über 3.000 Kilogramm Obst und Gemüse und 2.000 Kilogramm nicht-verderbliche Ware", sagt Yolanda Juaros. Die leuchtende Weste mit Aufdruck des Nachbarschaftsvereins, die sie trägt, weist die 61-jährige Gymnasiallehrerin für Englisch als eine der rund 150 Freiwilligen aus, die neben der wöchentlichen Lebensmittelausgabe auch Computer reparieren, um sie dann an bedürftige Familien fürs Homeoffice und Homeschooling zu geben. Hilfe bei der Arbeitssuche bieten sie auch an.

"Die Lebensmittel sind alles Spenden", sagt Yolanda. Ein Teil komme aus der regionalen Lebensmittelbank, einer Hilfsorganisation, anderes von Geschäften und Märkten im Stadtteil. Das Lokal ist ebenfalls eine Spende. "Wir dürfen es kostenlos nutzen. Insgesamt versorgen wir 600 Familien, 300 pro Woche", sagt Yolanda. Aluche hat 65.000 Einwohner.

"Viele der Bezieher waren bereits vor der Pandemie am Existenzminimum", sagt Yolanda. Schuld daran seien neben den prekären Arbeitsverhältnissen die hohen Wohnungsmieten in Madrid. "Das, was wir hier sehen, ist im 21. Jahrhundert eines Landes, in dem wir Steuern bezahlen, nicht würdig", sagt Yolanda mit Wut in der Stimme und Blick in Richtung Warteschlange. Dort harren unter vielen anderen Madeleine Tejada, 32, und ihre Schwester Virginia, 34, in der Kälte aus. "Ich habe keine Arbeit und kein Einkommen, ohne die Lebensmittelhilfe wüsste ich nicht, was ich tun soll", sagt Madeleine. Sie hält Abstand. Die Maske und ihr straff nach hinten gekämmtes Haar unterstreichen ihren strengen Blick. Madeleine lebt mit ihrer Mutter, die ebenfalls arbeitslos ist und keinerlei Hilfe bezieht, und ihrer Schwester Virginia zusammen, deren Lohn in einer Kneipe gerade einmal für die Miete der drei reicht.

Die prekär Beschäftigten

Die drei Frauen sind aus der Dominikanischen Republik nach Spanien gekommen – die Mutter vor 20 Jahren, Madeleine und ihre Schwester fünf Jahre später. Längst haben sie die spanische Staatsangehörigkeit, doch den prekären Arbeitsmarkt für Immigranten haben sie nie hinter sich gelassen.

Madeleine und ihre Mutter arbeiteten beide als Mädchen für alles bei alten Menschen. "El señor", wie Madeleine ihren ehemaligen Chef nennt, war 83 Jahre alt, als die Pandemie losging, die "señora" ihrer Mutter 85. Beide verstarben bereits zu Beginn der Pandemie an Covid. Seither haben Madeleine und ihre Mutter keinen Job mehr gefunden. "Die Familien sind übervorsichtig und stellen niemanden ein", sagt sie und zieht mit ihrem inzwischen gefüllten Einkaufswagen durch den Schnee davon.

Spanien, mit seinen 47 Millionen Einwohnern, ist von der Pandemie so stark betroffen wie wenige Länder in Europa. Seit März 2020 sind bereits fast 60.000 Menschen an Covid verstorben (Stand Anfang Februar 2021). Das Gesundheitssystem war und ist teils immer noch völlig überfordert. In Madrid kollabierte es zeitweise. Jetzt in der dritten Welle droht sich dies zu wiederholen.

"Durch die Sparpolitik in Folge der Eurokrise gingen seit 2009 allein in Madrid die Investitionen im öffentlichen Gesundheitswesen um elf Prozent zurück. 6.000 Arbeitsplätze gingen verloren", sagt Luis Mancera, Verwaltungsangestellter und gewerkschaftlicher Vertrauensmann im Krankenhaus Ramón y Cajal, einem der größten der Hauptstadt. Während im öffentlichen System gespart werde, seien die Zuwendungen ans private Gesundheitswesen um 17,3 Prozent gestiegen, sagt Luis, der ganz in weiß gekleidet aussieht wie ein Arzt.

Pandemie-Krankenhaus ohne Personal

Die konservative Regionalregierung privatisiert, wo es nur geht. Anstatt Kontaktverfolger und Personal für die Impfung einzustellen, vergibt die Region Madrid Aufträge an Privatunternehmen. In aller Eile wurde im Stadtteil Hortaleza ein Pandemie-Krankenhaus, das Hospital Isabel Zendal, aus dem Boden gestampft. Es hat keine OPs, keine Küchen, und keine eigene Belegschaft. "Anstatt Personal einzustellen, werden Ärzte und Pflegepersonal aus den anderen Kliniken abgezogen. Das schwächt das Gesundheitssystem weiter", sagt Luis.

Das "Zendal", das in nur drei Monaten in der Nähe des Hauptstadtflughafens errichtet wurde, kostete anstatt der veranschlagten 50 schließlich 100 Millionen Euro. Gebaut wurde es von Unternehmern, die den Konservativen nahestehen, so etwa der Präsident des spanischen Fußball-Rekordmeisters Real Madrid, Florentino Pérez. "Dabei wäre das neue Hospital gar nicht nötig gewesen, denn in mehreren Krankenhäusern stehen ganze Flügel leer", sagt Luis.

Kürzungen und Privatisierungen im Gesundheitssystem sind nicht die einzigen Probleme, die Spanien seit der Eurokrise mitschleppt. Seit Jahren werden jährlich zehntausende Familien von Justiz und Polizei aus ihren Wohnungen geworfen, weil sie die Miete oder ihren Immobilienkredit nicht mehr zahlen können. Deshalb hat die Koalitionsregierung auch ein Dekret erlassen, laut dem Wohnung, Wasser, Strom, Gas und Heizung Grundrechte sind, auch wenn die Betroffenen nicht mehr dafür zahlen können. Solange die Pandemie anhält, kann ihnen weder das eine noch das andere abgestellt werden. Auch Zwangsräumungen sind ausgesetzt.

Die anhaltende Wohnungsnot

Dennoch stehen an einem regnerischen Morgen im Januar Polizei und Gerichtsdiener bei Eva Mejillas in der Madrider Altstadt vor der Tür. Mehrere Dutzend Nachbarn, die meisten mit Kindern im gleichen Fußballverein, in dem auch Evas Kinder spielen, haben sich zu ihrer Unterstützung versammelt. "Was für eine Schande, eine Familie mit Kindern auf die Straße zu setzen", skandiert die Menge. Eva läuft unruhig hin und her. Grüßt hier, grüßt da.

Eva, 47 Jahre und Witwe, wohnt mit ihren drei Söhnen im Alter von 21, 11 und 6 Jahren in einer städtischen Sozialwohnung, die sie vor sechs Jahren besetzt hat. "Sie stand leer, meine Mutter wohnt im selben Haus, da bin ich einfach eingezogen", sagt sie. Denn trotz extremer Notlage, hätten ihr die Behörden damals nicht geholfen, entschuldigt sie ihr Verhalten.

Drei Stunden pro Tag arbeitet Eva im Speisesaal des Hauptquartiers der spanischen Armee. Sie verdient gerade einmal 561 Euro. Eine andere Arbeit konnte sie nicht finden. Jetzt in der Pandemie ist sie froh, dass sie wenigstens diesen Job hat. Und erstmals in ihrem Leben bekommt sie seit Juni so etwas wie Sozialhilfe. Seit dem Sommer gibt es eine Hilfe für "Familien, die ernsthafte Schwierigkeiten haben, die Kosten für ihre Grundbedürfnisse zu tragen". Eva erhält 149 Euro, um ihr schmales Einkommen aufzustocken.

Zusammen mit dem Kurzarbeitsgeld und der Anhebung des Mindestlohnes von 855 auf 1.025 Euro monatlich ist die Grundversorgung eine der wichtigsten sozialen Maßnahmen der Regierung, die ihr Amt nur wenige Wochen vor Ausbruch der Corona-Krise angetreten hat. Mittlerweile sind 1,1 Millionen Anträge auf Grundversorgung bei der Sozialversicherung eingegangen, 160.000 wurde bereits stattgegeben. Eine halbe Milliarde Euro hat das Programm bisher gekostet.

"Jetzt habe ich etwas über 700 Euro. Wie soll ich davon eine Miete bezahlen?", fragt Eva mit gedrückter Stimme, nachdem ihr der Gerichtsbeamte den Räumungsbefehl überreicht hat. "Sie geben mir einen Monat Zeit zu gehen. Wohin, ist jetzt die große Frage?" Vielleicht zu ihrer Mutter, die hat, seit auch sie Witwe ist, ein Zimmer frei.

"Zwangsräumungen wie die von Eva Mejillas sind die einzigen, die dieser Tage noch durchgeführt werden", sagt Mercedes Revuelta (58), Sprecherin der Plattform der von Hypotheken Betroffenen (PAH), der spanienweit agierenden Basisbewegung gegen Wohnungsräumungen. Denn von dem oben erwähnten Dekret sind diejenigen ausgenommen, die wie Eva öffentlichen Wohnraum besetzen. Mercedes will dies nicht einleuchten. 2.500 solcher Wohnungen standen in Madrid nach der Eurokrise leer. Heute sind sie alle besetzt. "Anstatt diejenigen zu verfolgen, die dringend eine Wohnung brauchen und sich nicht anders zu helfen wissen, sollten wir diejenigen gerichtlich belangen, die Sozialwohnungen verfallen lassen", sagt sie.

Zudem: Das Räumungsverbot läuft mit Ende der Pandemie aus. Und dieses ist, zumindest was die Gesetzeslage angeht, nahe. Der Notstand, der auch die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Bürger erlaubt, läuft am 9. Mai aus.

Die Räumungswelle kommt erst noch

"Dann kommt auf uns vermutlich eine Welle von Räumungsverfahren zu. Und Ende des Jahres, Anfang 2022 werden die Urteile dann vollstreckt", sagt Mercedes. Wie viele es sein werden? Genaue Zahlen gibt es keine, aber es gibt Statistiken, die Schätzungen zulassen. 2019 wurden 55.000 Wohnungen geräumt. 75 Prozent davon waren Mietwohnungen, der Rest Eigentumswohnungen, bei denen die Kreditraten nicht mehr bedient wurden. In den ersten drei Monaten 2020 waren es 19.000, dann kam der Räumungsstopp. "Das heißt, wir können allein für 2020 mit bisher rund 36.000 verhinderten Räumungen rechnen, wenn wir die Zahlen von 2019 als Grundlage nehmen." Hinzu kämen noch diejenigen, die 2021 ihre Miete und Kredite nicht mehr bezahlen können.

Auch Rezeptionist Miguel, der Veteran aus dem Hotelgewerbe, ist alles andere als optimistisch. "Es wird lange dauern, bis die Branche wieder so boomt wie zuvor", ist er sich sicher. Zwar werde ab dem Sommer der Tourismus wieder anlaufen, aber wohl eher langsam. Das gleiche gelte auch für Kongresse, Messen und Geschäftsreisen. "Auf uns kommen ganz bestimmt Hotelschließungen und Entlassungen zu", sagt er und hofft zugleich, dass er dann nicht unter denen ist, die ihren Arbeitsplatz verlieren.