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In 10 Minuten muss alles beim Kunden sein – verspricht GorillasFoto: Arnulf Hettrich/imago images

Schlechte Bezahlung, Überwachung, aber vor allem Unsicherheit – all das taucht immer wieder auf, wenn Duygu Kaya von ihrer Zeit als Riderin beim Essens-Lieferdienst Gorillas erzählt. Bei Gorillas musste Kaya mit dem Rad Lebensmittel ausliefern – binnen maximal zehn Minuten, sonst bekam sie eine Ermahnung per App. Mehrere Ermahnungen können zur Kündigung führen. Für Kaya bedeutete das: dauerhaft Stress.

Dabei hatte die 33-Jährige, die vor einigen Jahren aus der Türkei nach Berlin gezogen war, gehofft, dass sich ihre Arbeitsbedingungen verbessern. Denn bei den Gorillas bekam sie als Kurier-Fahrerin immerhin ein Fahrrad gestellt, –⁠ anders als bei dem Lieferdienst, bei dem sie zuvor gearbeitet hatte.

Doch die Realität war eine andere: "Neben dem Stress waren wir immer in Sorge, ob unser Gehalt pünktlich und vollständig kommt, ob unsere Schichten so liegen, dass wir unsere Sprach- oder Unikurse mitmachen können, und ob das Rad die nächste Tour durchhält", sagt Kaya. Die gerade einmal 10,50 Euro Stundenlohn, die Kaya bei Gorillas im vergangenen Sommer verdiente, dazu eine Probezeit von sechs Monaten, machten die Belastungen nicht besser. Dazu kam: Eine Betriebsratsgründung versuchte das Unternehmen lange mit allen Mitteln zu verhindern. Kaya wurde in dem Zuge sogar gekündigt. Inzwischen haben die Beschäftigten einen Betriebsrat.

Unsicher, befristet, schlecht bezahlt

Gorillas hat die Kritik an den Arbeitsbedingungen wiederholt zurückgewiesen. Dennoch: Vieles, was die 33-jährige Ex-Fahrerin beschreibt, werten Expert*innen als Zeichen prekärer Beschäftigung. Eine solche besteht laut ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation, wenn die Beschäftigung unsicher und befristet ist, sie ein Mangel an sozialer Absicherung kennzeichnet und das Einkommen gering ist. Dazu kommt die Schwierigkeit, eine Gewerkschaft zu gründen oder Tarifverhandlungen einzuleiten. Auf Kayas Beschäftigung als Kurier-Fahrerin trifft das alles zu. Sie sagt: "Wir sind das moderne Prekariat."

Der Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge beobachtet, dass bei Unternehmen der Plattform-Ökonomie, wie eben Gorillas, prekäre Arbeitsbedingungen vorherrschen. Der emeritierte Professor für Politikwissenschaft hat über diese Entwicklungen während der Covid-19-Pandemie ein Buch geschrieben, das im Frühsommer erscheint. Er betont: "Neu ist nicht, dass bestimmte Arbeiten auf Plattformen angeboten und koordiniert werden. Aber die Pandemie hat einen regelrechten Boom der Plattform-Ökonomie ausgelöst."

Wenn die App der Chef ist

Die Zahlen untermauern das: Gorillas ist in der Pandemie von einem Lieferdienst mit Geschäftsgebiet in zwei Berliner Stadtteilen auf ein europaweit agierendes Unternehmen mit 25 Standorten in Deutschland angewachsen. Der Lieferdienst Lieferando verbuchte allein in Deutschland im ersten Quartal 2021 Umsätze von 284 Millionen Euro, – ein Plus von 76 Prozent. Auch der Onlineversand-Riese Amazon, ebenfalls ein Unternehmen der Plattform-Ökonomie, fuhr Rekordgewinne ein. Und kündigte gerade erst an, 5.000 neue Jobs in Deutschland schaffen zu wollen.

Doch ist dadurch auch schon eine neue Klasse entstanden? Das denkt Butterwegge nicht: "Neben die Industriearbeiter als klassisches Proletariat ist das Prekariat mit unsicheren Jobs im Dienstleistungsbereich getreten, on- und offline. Das ist in der Pandemie nur sichtbarer geworden, weil die Lieferdienste plötzlich überall präsent waren."

Eines sieht Butterwegge dennoch als neu und gefährlich an: "Arbeit wird individualisiert, wenn nicht sogar atomisiert. Man arbeitet im Homeoffice oder wird in der Plattform-Ökonomie über Apps gesteuert. Wenn der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen fehlt und die App zum Chef wird, fällt es schwerer, sich kollektiv zu organisieren."

Auch Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, glaubt nicht, dass die Pandemie zur Entstehung eines neuen Prekariats geführt hat. Sie beobachtet aber sehr wohl qualitative Veränderungen, die gerade die Menschen mit unsicheren und niedrigen Einkommen treffen: "Prekär Beschäftigte haben die Folgen der Pandemie noch einmal sehr viel deutlicher gemerkt als andere." Schon vor der Pandemie habe es in Deutschland einen großen Pool an prekären Beschäftigungsverhältnissen gegeben – mit entsprechend schlechter Absicherung. Ein Paradebeispiel dafür sieht Kohlrausch in den Minijobs.

"Neben dem Stress waren wir immer in Sorge, ob unser Gehalt pünktlich und vollständig kommt, ob unsere Schichten so liegen, dass wir unsere Sprach- oder Unikurse mitmachen können, und ob das Rad die nächste Tour durchhält" Duygu Kaya, Ex-Kurierfahrerin

Allein zwischen Ende Juni 2019 und Ende Juni 2020 fielen bundesweit rund eine halbe Million dieser geringfügigen Jobs weg, bilanziert die Hans-Böckler-Stiftung in einer aktuellen Studie. Für mehr als die Hälfte der so Beschäftigten war dieser Job die einzige Einnahmequelle, so die Erhebung. "Das waren Menschen, die vorher vielleicht gar nicht gemerkt haben, wie prekär sie eigentlich beschäftigt waren", sagt Kohlrausch. Doch in der Pandemie habe sich auf einmal tausendfach gezeigt, was "geringfügig" wirklich heißt: kein Anspruch auf Kurzarbeitergeld, keinen auf Arbeitslosengeld, erklärt die Direktorin des WSI. "Viele Minijobbende sind direkt in Hartz IV gefallen."

An anderer Stelle konnte zumindest die Arbeitslosigkeit verhindert werden: durch das Kurzarbeitergeld – das laut der Hans-Böckler-Stiftung zur Hochphase der Pandemie wohl 2,2 Millionen Arbeitsplätze sicherte. Allerdings im Austausch für gerade einmal 60, beziehungsweise 67 Prozent für Familien, des Netto-Lohnausfalls zu Beginn des Bezugs.

"Ein Mindestkurzarbeitergeld, wie es die Gewerkschaften gefordert hatten, gab es nicht", kritisiert Kohlrausch. Für die Direktorin des WSI ist klar: "Das haben diejenigen am meisten gespürt, bei denen es schon vorher eng war." Aufgestockt wurde das Kurzarbeitergeld bei lang anhaltender Bezugszeit auf 80 beziehungsweise 87 Prozent und zudem vor allem dort, wo es einen Tarifvertrag gab – und damit ohnehin oft schon bessere Arbeitsbedingungen als bei Betrieben ohne einen Tarifvertrag. Kohlrausch sieht düster in die Zukunft: "Die Pandemie hat bestehende Ungleichheiten verstärkt. Noch ist es zu früh, das zu sagen, weil die Krise nicht vorbei ist. Aber wir sehen Anzeichen, dass Einkommensungleichheiten auch nach der Pandemie eher weiter zunehmen werden."

Nonstop arbeiten für schlechtes Geld

Diese Einkommensungleichheiten hat Ex-Riderin Kaya am eigenen Leib gespürt: "Wir arbeiten nonstop für schlechtes Geld, damit gut betuchte Menschen ihren Champagner und ihre Chips direkt an die Haustür bekommen. Teils fühlt man sich dann wie eine moderne Sklavin."

Dazu kommt die Sorge der 33-jährigen Einwanderin aus der Türkei, ob sie dem Zirkel des Prekariats entfliehen kann. Eigentlich will sie als Lehrerin arbeiten. "Aber die einzigen Jobs, die ich gerade bekomme, sind prekäre. Weil die Chefs sich ausrechnen, dass wir als Migrant*innen die Arbeit brauchen und keinen Ärger machen." Und weil sie wiederum fast nur mit anderen Migrant*innen zusammenarbeite, sei es schwer für sie, genug Deutsch zu lernen, um an bessere Posten zu kommen.

Auch Christoph Butterwegge warnt, dass das bestehende Prekariat in der Krise weiter abgehängt wurde: "Der Staat hat sich sozial gegeben, aber vor allem große Konzerne unterstützt. Dagegen wurden die Prekären und die Ärmsten vernachlässigt." Zwar gab es striktere Regeln für die Beschäftigten in der Fleischindustrie. Darüber hinaus sei aber zu wenig geschehen, sagt Butterwegge. Gegenüber prekärer Beschäftigung sei Deutschland noch immer viel zu tolerant.

"Die Regierung hat aus der Pandemie bisher zu wenige Konsequenzen gezogen", kritisiert auch WSI-Direktorin Kohlrausch. Besonders scharf warnt die Wissenschaftlerin vor der geplanten Anhebung der Minijob-Verdienstgrenze von 450 auf 520 Euro. "Das könnte zu einer Ausweitung prekärer Beschäftigung führen", betont sie.

Die für Oktober geplante Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro sieht Kohlrausch zwar als wichtig an. Doch diese müsse zwingend mit einer Stärkung der Tarifbindung einhergehen: "Das ist der Schlüssel dafür, um prekäre Beschäftigungsverhältnisse einzudämmen."

Kaya arbeitet inzwischen in einem anderen Start-Up. Wieder ohne Betriebsrat, wieder für wenig Geld und mit einer noch längeren Probezeit.

Ausweitung Minijobs stoppen

ver.di und viele andere Organisationen fordern, die weitere Ausweitung von Minijobs zu stoppen. Dazu haben sie eine Petition gestartet. "Wir protestieren gegen die geplante Ausweitung der sogenannten Minijobs und fordern die Abgeordneten aller demokratischen Parteien auf, dieses Vorhaben der Regierungskoalition zu stoppen", heißt es darin. Minijobs verdrängen bereits jetzt schon rund 500.000 reguläre, sozialversicherungspflichte Beschäftigungsverhältnisse.

Die Petition unterstützen unter